Novaesium, alias Neuss

Germanen: Unterwegs zu höherer Zivilisation

von Hermann Ament 
I. Einleitung VII. Religion und Kultgemeinschaften
II. Wer waren diese Germanen? VIII. Landwirtschaft und Siedlungswesen
III. Die germanischen Stämme IX. Handwerk, Handel und Verkehr
IV. Der Stamm X. Bild und Schrift
V. Soziale Strukturen und Herrschaftsverhältnisse XI. Die germanische Geschichte an ihrem Ziel
VI. Tracht, Schmuck und Bewaffnung XII. Literatur

X. BILD UND SCHRIFT


Als man im 5. Jahrhundert n. Chr. bei den im Norden lebenden Germanen dazu überging, goldene Schmuckscheiben zu prägen, auf denen Gestalten und Szenen der eigenen Mythologie dargestellt waren, war eine wichtige Etappe in dem langen Prozess der Aneignung mediterraner Bildvorlagen erreicht, aber beileibe noch nicht dessen Ende.

Während in der antiken Welt, in der Welt der Griechen und Römer, buchstäblich jedweder Bereich des Lebens angefüllt war mit bildlichen Darstellungen, sehen wir uns im germanischen »Barbaricum« jenseits der römischen Grenzen einer bildlosen, anikonischen Welt gegenüber; diesen Eindruck vermitteln die archäologischen Funde ebenso wie einzelne Nachrichten in den Schriftquellen. So hat man sich in Rom noch lange über eine von Plinius dem Älteren überlieferte Anekdote amüsiert, der zufolge ein Barbar aus dem Norden für ein berühmtes Bildwerk in Rom nicht das geringste Verständnis aufbringen konnte. Nach dessen Wert befragt - womit der Kunstwert gemeint war -, hielt er es für wertlos, hatte also dafür gar keinen Maßstab.

Die Bildarmut der Heimat dieses Barbaren ist am archäologischen Fundbild deutlich ablesbar. Ein paar stiergestaltige Trinkhornendbeschläge, hier und da eine in grober Manier holzgeschnitzte Kultfigur, viel mehr ist für die ältere Kaiserzeit nicht zu nennen. Das änderte sich auch in der jüngeren Kaiserzeit nur zögernd, aber immerhin merklich. Tiergestaltige Fibeln kamen gebietsweise in Mode, sichtlich nach römischen Vorbildern gestaltet; Hirsch und Eber waren die beliebtesten Motive. Kleine vollplastische Rinderfiguren aus Bronze waren zwar selten, aber weithin bekannt; holzgeschnitzte mag es häufiger gegeben haben. Generell wurden jedoch aus dem überaus reichen Angebot von potenziellen Vorbildern nur Darstellungen von Tieren ausgewählt, und unter diesen wieder eher von solchen der heimischen Fauna als von exotischen.

Eine eigene Bildersprache: Die Tierornamentik

Mit der Nachahmung römischer Tierbilder setzte denn auch im 5. Jahrhundert eine Entwicklung ein, die zu einer für die germanische Welt eigentümlichen Kunstäußerung führen sollte. Ausgangspunkt waren Tierdarstellungen von Raubkatzen und Seetieren, welche die Randpartien spätrömischer, vor allem von Militärpersonen getragener Gürtelbeschläge aus Bronze oder Silber schmückten. Solche Metallarbeiten samt ihrer plastischen Verzierung wurden alsbald auch im Germanengebiet nachgeahmt, teils perfekt imitiert, teils aber auch dem eigenen Geschmack angepaßt. Letzteres fand seinen Ausdruck in einer eigentümlichen Zerstückelung des Tierbildes, in seiner Auflösung in einzelne anatomische Elemente. Einen weiteren Schritt weg von den römischen Vorformen, hin zu einem selbstständig entwickelten, spezifisch germanischen Kunststil bedeutete es, wenn solche Tierbilder nicht mehr nur am Rand von Ziergegenständen in Erscheinung traten, sondern auch die zentralen Zierflächen besetzten und wenn die Elemente der Tierdarstellungen in ganz unorganischer Weise, allein nach künstlerischen Gesichtspunkten, arrangiert wurden. Im südlichen Skandinavien und in der Zeit um 500 n. Chr. ist diese germanische Tierornamentik der ersten Stilstufe entwickelt worden (»Tierstil I«). Sie sollte noch im Laufe des 6. Jahrhunderts die zweite Entwicklungsstufe erreichen: Unter dem Einfluß mediterraner Flechtbandmuster wurden die Tierdarstellungen nun nach einem Flechtsystem arrangiert, es wurden, anders gesagt, Flechtmuster mithilfe von Tierbildern, Tierbilder als Flechtmuster dargestellt (»Tierstil II«).

Mit der Tierornamentik hatten die germanischen Stämme, hatte jedenfalls die Mehrzahl von ihnen eine ihnen gemäße künstlerische Ausdrucksform gefunden. Dieser Formensprache bedienten sich die skandinavischen Völker ebenso wie die Langobarden in der Theißebene oder in Italien, sie wurde von Angelsachsen, Franken und Thüringern gleichermaßen verstanden; lediglich die gotischen Stämme scheinen daran keinen Anteil genommen zu haben. Aber was für ein langer Adaptionsprozeß, bis endlich im 5. Jahrhundert aus einem buchstäblich marginalen Sektor der antiken Bilderwelt eine eigene germanische Bildersprache entwickelt werden konnte!

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Runen raunen, sie verlautbaren nicht

Nicht anders verhält es sich mit der Rezeption der Schrift, eines wesentlichen, ja konstitutiven Elements der antiken Hochkultur. Allerdings ist die Quellensituation so, daß uns weite Strecken dieses Aneignungsvorganges unbekannt sind und rätselhaft bleiben, und das vielleicht für immer.

Nur so viel ist gewiß: Germanen müssen frühzeitig aus einem mediterranen Alphabet ein eigenes Schriftsystem abgeleitet haben, die Runenschrift nämlich in der Form des älteren Futhark. Alles weitere ist Spekulation: Welche Germanen beteiligt waren, welches Alphabet als Vorlage diente (lateinische Kursive, nordetruskische Schrift oder sonst etwas), wo und wann das geschehen ist (um die Zeitwende vielleicht, vielleicht auch früher oder später). Fest steht aber, daß ein voll ausgebildetes, uneingeschränkt taugliches Schriftsystem mit 24 Zeichen entwickelt worden ist. Seine Eigenständigkeit ist nicht nur aus dem unverwechselbaren Duktus der Buchstaben zu ersehen, sondern vor allem aus zwei Eigenarten, die mit keinem der als Vorbild in Betracht kommenden Alphabete übereinstimmen:

Die erste ist die Reihenfolge der Buchstaben. F - U - Th - A - R - K sind die ersten sechs Zeichen der Runenreihe; so ergab sich »Futhark« als Bezeichnung für dieses »Alphabet«. Die zweite ist der Umstand, daß dem einzelnen Buchstaben neben seinem Lautwert auch eine begriffliche Bedeutung zukommt; zum Beispiel hat die erste Rune nicht nur den Lautwert »f«, sondern auch die Bedeutung »fehu« (Vieh).

Diese Schrift muß lange - jahrhundertelang - in Bereichen geübt worden sein, zu welchen wir weder durch schriftliche Überlieferung noch aufgrund archäologischer Funde Zugang haben. Eine, als Runendenkmal umstrittene, Fibel aus dem 1., wenige Stücke aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. ragen wie Inseln aus einem uns sonst verborgenen Anwendungsfeld der Runenschrift. Erst im 3. Jahrhundert setzt die Überlieferung auf breiterer Front ein: In den Ländern an der westlichen Ostsee ist man allem Anschein nach zuerst dazu übergegangen, Runen auf solche Gegenstände zu ritzen, die bis in unsere Zeit überdauern konnten, und auch im ostgermanischen Bereich finden sich einige Beispiele aus dieser Zeit. Von nun an reißt die Überlieferung nicht mehr ab. Runen wurden im Norden bis in die Neuzeit geschrieben. Deswegen brauchte auch die Runenschrift nie entziffert zu werden; man konnte sie noch lesen, als die wissenschaftliche Beschäftigung mit alten Runeninschriften einsetzte.

Fassen wir jedoch die Zeit des älteren Futhark (vor Anfang des 8. Jahrhunderts) ins Auge, so ist es vor allem die Anwendungsweise, die, mehr noch als die formale Eigenart, die Runenschrift von der antiken Schriftkultur unterscheidet. Ihr Anwendungsbereich war eng umgrenzt: Widmungen und Zueignungen auf Gegenständen, meist auf deren Rückseite und demzufolge in der Regel nicht sichtbar, damit verbunden oder auch allein gute Wünsche, selten Verwünschungen, ferner Namen (des Gegenstandes, des Besitzers, des Widmenden, des Empfängers), wiederholt auch die Nennung der Person, welche die Runen ritzte. Es wurden also sehr persönliche, private Dinge zum Ausdruck gebracht, und zwar in diskreter Weise. Wie ihr Name schon sagt: Runen raunen, sie verlautbaren nicht.

Obwohl also den Germanen ein in jeder Hinsicht taugliches Schriftsystem zur Verfügung stand, obwohl sie über Jahrhunderte hinweg mit der römischen Art der Verwendung von Schrift Bekanntschaft machen konnten, obwohl die Vorteile der Schriftlichkeit im öffentlichen Leben doch auch für sie klar zutage gelegen haben müssen, blieb die Anwendung von Schrift bei ihnen viele Jahrhunderte lang einer eng umgrenzten privaten und diskreten Sphäre vorbehalten.

© Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001

Verweis Die germanische Geschichte an ihrem Ziel
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