Eine nicht minder romantische Vorstellung als die, der Stamm sei eine naturwüchsige Menschengemeinschaft, ist die andere, das politische Leben eines germanischen Stammes sei in einer geradezu demokratisch anmutenden Weise von der Gemeinschaft der Freien gelenkt worden. In Wirklichkeit tritt überall da, wo die Quellen nur irgendeinen Blick auf die innergermanischen Zustände erlauben, eine Schicht von Adligen (lateinisch nobiles, principes) in Erscheinung, in deren Händen die reale politische Macht lag. Wo Könige bezeugt sind, wie bei den östlichen und nördlichen Germanenstämmen, waren auch sie nichts anderes als Exponenten der Adelsschicht, gleichviel, ob das erste Amt im Stamm erblich war oder ob es durch persönliche Tüchtigkeit jeweils neu errungen werden mußte. Die gesellschaftliche Bedingtheit von Aufstieg und Fall solcher Stammesführer können zwei Lebensläufe anschaulich vor Augen führen.
Zwei Lebensläufe: Arminius und Marbod
Der Cherusker Arminius (†21 n.Chr.) und der Markomanne Marbod oder Marobod (†36 n.Chr.) waren Zeitgenossen; in ihrem Herrschaftsanspruch waren sie Rivalen und auf dem Höhepunkt ihrer Macht erbitterte Gegner in offener Feldschlacht (17 n. Chr.). In Bezug auf das Verhältnis zu Rom - eine Schicksalsfrage! - verfolgten sie das gleiche Ziel, die politische Unabhängigkeit ihres Stammes, jedoch mit unterschiedlichen Konzeptionen: Arminius suchte die direkte Konfrontation, Marbod die respektvolle Distanz. Letztlich haben beide ihre Absichten wenigstens teilweise verwirklichen können, insofern Cherusker und Markomannen samt ihren Nachbarn und Verbündeten auf Dauer außerhalb des römischen Herrschaftsbereichs blieben. Eine Oberherrschaft in Germanien konnte jedoch keiner von ihnen erringen, und persönlich ist jeder in seiner Weise gescheitert.
Marbod war, wie die Römer sagten, genere nobilis, ein Adliger von Geburt. Er hatte sich in seiner Jugend in Rom aufgehalten, ob als Geisel, aus Anlaß einer Gesandtschaft oder aus einem anderen Grund, ist nicht bekannt. Aber allein diese Tatsache und die andere, daß er von Kaiser Augustus mit Beweisen seiner Gunst ausgezeichnet worden ist, zeigt den hohen gesellschaftlichen Rang, den er innerhalb seines Stammes eingenommen haben muß. Der Aufenthalt im Zentrum des römischen Staates hatte ihn tief geprägt; fortan war er höchstens noch seiner Herkunft, nicht aber seiner Mentalität nach ein Barbar, wie es der zeitgenössische römische Geschichtsschreiber Velleius Paterculus, obendrein mit einem Wortspiel, ausdrückt: »magis natione quam ratione barbarus«. Nach seiner Rückkehr aus Rom übernahm er unangefochten die Führung, ja die königliche Gewalt innerhalb seines Stammes.
Mit der gleichen Kennzeichnung seiner Abkunft (genere nobilis) führt Velleius Paterculus auch den Cherusker Arminius in seine Darstellung ein, und nach Tacitus gehörte er gar einem königlichen Geschlecht (stirps regia) an. Wir kennen weitere Angehörige dieser Sippe: Der Vater hieß Segimer, ein Onkel Inguimer, einer der Brüder führte den lateinischen Namen Flavius; mit Thusnelda war Arminius verheiratet, und sein ihm nicht wohlgesonnener Schwiegervater war Segestes. Auch Arminius kannte den römischen Staat aus der Innenperspektive: Er hatte im oder jedenfalls dem römischen Militär gedient und das römische Bürgerrecht sowie die Würde des Ritterstandes erlangt. Was sich im Einzelnen hinter diesen überlieferten Tatsachen verbirgt - etwa auch ein Aufenthalt in Rom -, ist Gegenstand vieler gelehrter Spekulationen.
Es ist ersichtlich, daß für Arminius ebenso wie für Marbod die Herkunft aus einer adligen Familie die unabdingbare Voraussetzung des Aufstiegs zur Herrschermacht war. In der aktuellen historischen Situation, in einer Phase römischer Expansion nach Mitteleuropa nämlich, ließ sich ein solcher Aufstieg jedoch nur durch militärische Erfolge realisieren und war von der Kenntnis der militärischen Organisation des römischen Gegners abhängig. Über solche Kenntnisse verfügten Marbod und Arminius gleichermaßen. Arminius hat nicht nur einen glänzenden Sieg über die drei Legionen des Varus errungen (9 n.Chr.), sondern hat sich auch in den Jahren 14 bis 16 n.Chr. gegenüber den Angriffen des Germanicus behauptet, was letztlich zum Verzicht der Römer auf die Eroberung Germaniens führte. Auch Marbods Herrschaft über eine weit gespannte Stammeskoalition gründete sich auf ein Heer von nicht weniger als 70000 Fußsoldaten und 4000 Reitern - eine durchaus glaubwürdige Angabe, wenn man bedenkt, daß der spätere römische Kaiser Tiberius zwölf Legionen gegen ihn ins Feld führen wollte (6 n. Chr.), wozu es nur wegen eines Aufstandes in Pannonien nicht gekommen ist.
Dennoch waren Kommandogewalt und Kriegserfolg nicht die alleinigen Grundlagen der Macht. Auf Dauer ließ sie sich nur im Einvernehmen mit der Stammesnobilität ausüben. Marbod wurde durch die Auflehnung eines anderen Adligen namens Katwalda gestürzt und ins Exil getrieben (19 n. Chr.), nachdem die unentschieden verlaufene Schlacht mit Arminius (17 n. Chr.) einen Schatten auf sein Kriegsglück geworfen hatte. Die Gegner des Arminius saßen in seiner eigenen Familie: Segestes hatte schon mit Varus und später mit Germanicus, Inguimer hatte mit Marbod paktiert. Weil er angeblich nach der Königswürde strebte, wurde Arminius von seinen eigenen Verwandten umgebracht (um 21 n. Chr.). |
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Archäologische Zeugnisse adligen Lebens
Aufschlußreiche Informationen über den germanischen Adel liefern auch die archäologischen Quellen, namentlich in Gestalt von Grabfunden. Sowohl aus der älteren wie auch aus der jüngeren römischen Kaiserzeit sind Grabfunde in beträchtlicher Anzahl bekannt geworden, die in mehrfacher Hinsicht aus dem Rahmen des Üblichen fallen und deshalb allem Anschein nach mit Angehörigen einer privilegierten sozialen Schicht in Verbindung gebracht werden können. Schon durch die Beisetzungsart unterschieden sich diese Gräber von den landläufigen Sitten: Die Toten sind unverbrannt bestattet worden, während sonst allenthalben der Brauch der Leichenverbrennung geübt wurde. Diese Gräber enthalten Beigaben in großer Zahl, darunter auch Stücke von hohem materiellem Wert - ein deutlicher Hinweis auf den Reichtum der bestatteten Person und ihrer Sippe. Die Auswahl der Beigaben weist auf Lebensbereiche hin, in denen sich der herausgehobene soziale Status besonders deutlich zum Ausdruck bringen ließ: Mit kostbarem Schmuck und anderen Accessoires ihrer Kleidung wußten namentlich die Frauen zu imponieren, Tafel- und Küchengerät erinnert an die Rolle als Gastgeber, importiertes römisches Geschirr aus Silber, Glas und Bronze verrät verfeinerte Lebensart. Auch Brettspiele und Jagdgerät passen zur Freizeitgestaltung einer Adelsschicht, die weit entfernt war von der Last des Broterwerbs durch eigener Hände Arbeit.
Wie die Gräber lassen auch die archäologisch erschlossenen Grundrisse germanischer Ansiedlungen immer wieder das Vorhandensein eines privilegierten Personenkreises erkennen. Innerhalb des Küstendorfes Feddersen Wierde übertrifft beispielsweise ein Gehöft alle anderen durch seine Größe, durch ein hallenartiges Gebäude und durch zugeordnete Handwerksbetriebe. In den Landstrichen nördlich der mittleren Donau, um ein anderes Beispiel zu nennen, haben sich einzelne germanische Große römische Wohnkultur zu Eigen gemacht; sie verfügten über nach römischer Manier errichtete Steinbauten mit Heizung. Ein drittes Beispiel schließlich: Im 4. und 5. Jahrhundert sind in den grenznahen Bereichen Germaniens regelrechte Burgen entstanden, befestigte Höhensiedlungen als Sitz von Adligen samt ihrer Gefolgschaft.
Unterhalb der Adelsschicht gab es eine breite Schicht von Freien (ingenui), die vor allem als Bauern ihren Lebensunterhalt verdienten. Ferner kennen die Schriftquellen unfreie Personen, liberti (eigentlich Freigelassene, vermutlich auch in Abhängigkeit geratene Freie), und Sklaven (servi).
© Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001
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