Novaesium, alias Neuss

Germanen: Unterwegs zu höherer Zivilisation

von Hermann Ament 
I. Einleitung VII. Religion und Kultgemeinschaften
II. Wer waren diese Germanen? VIII. Landwirtschaft und Siedlungswesen
III. Die germanischen Stämme IX. Handwerk, Handel und Verkehr
IV. Der Stamm X. Bild und Schrift
V. Soziale Strukturen und Herrschaftsverhältnisse XI. Die germanische Geschichte an ihrem Ziel
VI. Tracht, Schmuck und Bewaffnung XII. Literatur

III. DIE GERMANISCHEN STÄMME: NORDSEEGERMANEN UND RHEIN-WESER-GERMANEN


Germanen. Siedlungsräume
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Für die westliche, an den Rhein angrenzende Zone Germaniens sind in der antiken Literatur zahlreiche Stammesnamen überliefert, zum Teil offenbar von recht kleinen Stämmen. Von diesem grenznahen Bereich hatten die Römer, hatte namentlich auch Tacitus naturgemäß besonders detaillierte Kenntnisse. Nach Aussage der archäologischen Funde zerfällt dieser Bereich in die nordseegermanische Gruppe an der Nordseeküste und in deren Hinterland sowie in die südlich anschließende, zwischen Weser und Rhein verbreitete Rhein-Weser-germanische Gruppe. Als besonders bedeutungsvolle Stämme sind die Chauken für den nordseegermanischen, die Cherusker und die Chatten für den binnenländischen Bereich zu nennen.

In den Jahren nach der Zeitwende standen die von Arminius geführten Cherusker an der Spitze einer Stammeskoalition, die die Absicht der Römer vereitelte, zwischen Rhein und Elbe eine Provinz »Germania« einzurichten. Die dem römischen Legaten Publius Quinctilius Varus im Jahr 9 n.Chr. im Teutoburger Wald (oder in dessen Umkreis) zugefügte Niederlage ist das herausragende Ereignis dieser Auseinandersetzung, das seit kurzem wenigstens an einem seiner Schauplätze, in der Kalkrieser-Niewedder Senke nahe Osnabrück, auch archäologisch evident ist. Aus den Rhein-Weser-Germanen ging im 3. Jahrhundert n. Chr. der Großstamm der Franken hervor; etwa gleichzeitig und in analoger Weise entstand im nordseegermanischen Raum der Großstamm der Sachsen. Konkrete politische Absichten, die bei den Sachsen auf die Britischen Inseln, bei den Franken auf die römische Provinz Germania inferior (Niedergermanien) zielten, haben wesentlich zur Bildung dieser neuen ethnischen Formationen beigetragen.

Die swebischen (elbgermanischen) Stammesgruppen

Der Runde Berg bei Urach, am Rande der Schwäbischen Alb. Die Luftaufnahme zeigt in der Mitte das Hochplateau, auf dem sich vom 3. bis zum frühen 6. Jh. eine alemannische Burgsiedlung befand.
Photo: O. Braasch (Landesdenkmalamt BW)

Östlich von den Nordsee- und den Rhein-Weser-Germanen siedelten die swebischen Stämme, deren archäologische Hinterlassenschaft sich als die »elbgermanische« Formengruppe darstellt. Hierzu gehörten so namhafte Stämme wie die Langobarden, die Hermunduren, die Markomannen und die Quaden, nicht zuletzt auch die Semnonen, die Tacitus als den ältesten und vornehmsten Swebenstamm bezeichnet. Die swebische Stammesgruppe hat zeit ihres Bestehens einen bemerkenswerten Expansionsdrang bewiesen. Ausgehend von ihrem Kerngebiet an unterer und mittlerer Elbe sowie im Havel-Spree-Gebiet hat sie sich noch vor der Zeitwende über ganz Thüringen und bis an den mittleren Main verbreitet und schon einen ersten Vorstoß in den böhmischen Kessel unternommen. In der Folgezeit wurde das Oberrheingebiet erreicht, wo römische Inschriften die »Suebi Nicretes« (Neckarsweben) nennen. Vor allem aber wurden Böhmen, Mähren und die westliche Slowakei bis zur römischen Grenze an der Donau besiedelt. In den Markomannenkriegen (166-180 n. Chr.) haben diese nördlich der mittleren Donau ansässig gewordenen elbgermanischen Stämme als Gegner der Römer eine maßgebliche Rolle gespielt. Als nach dem für die Römer siegreichen Ende dieser Kämpfe die Reichsgrenze an der Donau wieder stabilisiert war, wurde der elbgermanische Expansionsdrang nach Westen abgelenkt. Im 3. Jahrhundert haben sich dort die Alamannen (Alemannen), ein Großstamm wie Franken und Sachsen, vor allem aus elbgermanischen Elementen gebildet und sich im bis dahin römischen Gebiet zwischen Limes, Rhein und Donau festgesetzt. Im Alamannenverband aufgegangen sind die Juthungen, unter welchem Namen offenbar die altehrwürdigen Semnonen in der Phase ihres Ausgriffs nach der römischen Provinz Rätien auftraten. Ein ausgeprägtes Wanderschicksal hatten die Langobarden, die über Pannonien nach Italien gezogen sind, nicht minder die Quaden, die sich unter dem alten Sammelnamen »Sweben« schließlich auf der Iberischen Halbinsel niedergelassen haben. Selbst der erst in jüngerer Zeit gebildete Stamm der Baiern (Bajuwaren) ist in seinem Kern einer elbgermanischen, nach Böhmen zurückreichenden Wurzel entsprossen. Im Innern Germaniens blieben schließlich nur die aus den Hermunduren hervorgegangenen Thüringer ansässig.

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Die Nordgermanen

Auf der jütischen Halbinsel hatten sowohl die elbgermanischen wie auch die nordseegermanischen Gruppen Kontakt mit den Nordgermanen (Ostseegermanen). Diese siedelten im südlichen Skandinavien, wobei Jütland und die dänischen Inseln, ferner die Ostseeinseln Bornholm, Gotland und Öland besondere Schwerpunkte bildeten. Auf der skandinavischen Halbinsel selbst war die Besiedlung weniger dicht. In der antiken Welt wußte man über diese entlegenen Gegenden und ihre Bewohner nur wenig; Tacitus kannte dort lediglich die Suionen (Schweden) und, schon an der östlichen Küste des Baltischen Meeres, die Ästier. In den Stammessagen so weit gewanderter Völker wie der Langobarden und der Goten gilt Skandinavien als die mythische Urheimat, ja, der gotische Geschichtsschreiber Jordanes bezeichnet es im 6. Jahrhundert n.Chr. geradezu als Produktionsstätte für Völker und Mutterschoß von Nationen (officina gentium et vagina nationum). Größere Abwanderungsbewegungen aus Skandinavien lassen sich allerdings archäologisch nicht nachweisen.

Die Ostgermanen

Was östlich der elbgermanischen Zone siedelte, kann unter der Bezeichnung »Ostgermanen« zusammengefaßt werden. Begreiflicherweise sind die Kenntnisse, die die antike Welt von deren Wohnsitzen besaß, ähnlich dürftig und verschwommen wie im Falle der Nordgermanen; um so höhere Bedeutung kommt den archäologischen Zeugnissen zu. Nach ihnen lassen sich für die ältere römische Kaiserzeit (1./2. Jahrhundert n. Chr.) drei große Formenkreise unterscheiden: eine stark mit elbgermanischen Elementen durchsetzte Odermündungsgruppe am Unterlauf dieses Flusses sowie in Vorpommern und im westlichen Pommern, weiter eine Weichselmündungsgruppe im restlichen Pommern und an der unteren Weichsel sowie schließlich die Oder-Warthe-Gruppe, die von der mittleren und oberen Oder bis weit über die Weichsel hinaus großräumig verbreitet war.

Die Weichselmündungsgruppe wird heute meist nach dem Fundort Wielbark (deutsch Willenberg; Woiwodschaft Elblag/Elbing) als Wielbarkkultur bezeichnet. Sie geht aus der ebenfalls im Weichselmündungsgebiet ansässigen Oksywie- bzw. Oxhöftkultur hervor. Auf eine Expansionsphase im Raum südlich der Ostsee folgt eine bemerkenswerte Verlagerung in Richtung Südosten, wo die Wielbarkkultur schließlich in die Tschernjachowkultur einmündet, die im 2. bis 5. Jahrhundert n.Chr. in Südrussland und in der südlichen Ukraine verbreitet war. Dieser Vorgang spiegelt zweifellos die Südwanderung der Goten wider, ohne daß die genannten Kulturgruppen mit dem Gotenstamm schlechthin gleichgesetzt werden können. So wird man sich die Träger der Tschernjachowkultur am ehesten als einen polyethnischen Verband unter der Herrschaft der Goten vorzustellen haben. Die archäologischen Quellen bieten keinen sicheren Anhalt dafür, daß die Goten insgesamt aus Skandinavien eingewandert sind, wie es die spät aufgezeichnete Stammessage wissen will. Allenfalls für kleine Gruppen mag das gelten, was aber nicht ausschließt, daß gerade von solchen die Anstöße zu Expansion und Migration ausgegangen sein können. In der südrussischen Steppe haben die Goten ihr kulturelles Erscheinungsbild merklich verändert, indem sie sich der Lebensweise der dort beheimateten Reiternomaden angepaßt haben; deswegen und in Anbetracht ihrer Wohnsitze weit außerhalb des eigentlichen germanischen Gebietes wurden sie schließlich von der spätantiken Welt gar nicht mehr als Germanen wahrgenommen, vielmehr als Hunnen oder Skythen bezeichnet.

Die ostgermanische Oder-Warthe-Gruppe, heute meist als Przeworskkultur bezeichnet, muß vor allem den Stamm der Wandalen eingeschlossen haben, der in die Unterstämme der Hasdingen und Silingen zerfiel. Die Wandalen haben von allen Germanenstämmen den weitesten Wanderungsweg zurückgelegt, bis sie 429 n.Chr. in Nordafrika ihr Königreich begründeten.

Schließlich haben alle ostgermanischen Stämme das von ihnen in der älteren Kaiserzeit eingenommene Siedlungsland zwischen Ostseeküste und Karpaten vollständig geräumt. Da auch die elbgermanischen Stämme bis auf wenige Reste nach Westen und Süden abgewandert sind, ist bis zum Anbruch des Mittelalters alles germanische Siedlungsland östlich der Elbe aufgegeben worden und konnte von den nachrückenden Slawen in Besitz genommen werden.

© Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001

Verweis Der Stamm - Mythos und Realität
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