Novaesium, alias Neuss

Germanen: Unterwegs zu höherer Zivilisation

von Hermann Ament 
I. Einleitung VII. Religion und Kultgemeinschaften
II. Wer waren diese Germanen? VIII. Landwirtschaft und Siedlungswesen
III. Die germanischen Stämme IX. Handwerk, Handel und Verkehr
IV. Der Stamm X. Bild und Schrift
V. Soziale Strukturen und Herrschaftsverhältnisse XI. Die germanische Geschichte an ihrem Ziel
VI. Tracht, Schmuck und Bewaffnung XII. Literatur

VIII. LANDWIRTSCHAFT UND SIEDLUNGSWESEN


Die Landwirtschaft stellte die wesentliche Lebensgrundlage aller germanischen Stämme dar: Der weitaus größte Teil der Bevölkerung hat seinen Lebensunterhalt durch Ackerbau und Viehzucht verdient, und nur wenigen war es vorbehalten, ihr Auskommen auf andere Weise, durch Handel und Handwerk etwa, zu finden. Die landwirtschaftliche Produktion stand innerhalb des von germanischen Stämmen besiedelten Raumes ungefähr auf dem gleichen technischen Niveau, jedoch konnte je nach der Landesnatur das Spektrum der angebauten Kulturpflanzen oder der gehaltenen Tierarten unterschiedlich sein. Dabei scheint die Bedeutung der Tierhaltung im Ganzen etwas größer gewesen zu sein als die des Landbaues; dieser Eindruck ist jedenfalls bei den Römern entstanden, die manche Stämme gar für reine Viehzüchter hielten.

Unter den Haustieren dominierte überall das Rind, von kleinerem Wuchs als heute, das als Milch- und Fleischlieferant und überdies als Zugtier diente. Nächst ihm sind - nun mit regionalen Schwerpunkten - Schwein und Schaf bzw. Ziege belegt (Ziege und Schaf sind anhand des Knochenmaterials vielfach nicht zu unterscheiden). Pferd, Hund und Katze kommen hinzu, und nicht zuletzt Geflügel: Hühner, Gänse und vielleicht auch Enten. Der Anteil des Federviehs wird vermutlich unterschätzt, denn Geflügelknochen sind erhaltungsbedingt unter den Knochenfunden eher unterrepräsentiert. Wild hingegen hat als Nahrungsmittel nur eine ganz untergeordnete Rolle gespielt.

Die Bedeutung des Rindes wird auch dadurch unterstrichen, daß es zusammen mit den Menschen unter einem Dach lebte. Da Freilandhaltung im Winter aus klimatischen Gründen nirgendwo in Germanien möglich war, waren die Tiere aufgestallt, und zwar im Stallteil eines Langhauses, in Boxen beiderseits eines Stallganges. Der andere, oft kleinere Teil des Hauses wurde von der Bauernfamilie bewohnt.

An Feldfrüchten wurde vor allem Gerste angebaut. Andere Getreidesorten waren bekannt, spielten aber eine geringere, zudem regional unterschiedliche Rolle: verschiedene Weizenarten, Hafer, Roggen und Hirse. Schwerpunktmäßig im Nordseeküstengebiet hat man die Ackerbohne angebaut, als weitere Hülsenfrucht scheint auch die Erbse feldbaumäßig gezogen worden zu sein. Flachs (Lein) und in geringem Maße auch Hanf sind sowohl wegen der ölhaltigen Früchte als auch wegen der Fasern angebaut worden. Über die Erzeugnisse des zweifellos betriebenen Gartenbaus sind wir kaum unterrichtet. Obstbau scheint keine große Bedeutung besessen zu haben, und das Gleiche gilt für das Sammeln von Wildfrüchten.

Als hauptsächliches Ackergerät war der Pflug von alters her bekannt, und zwar in der Form des Ritzpfluges (Arder, Ard), den man, um ein befriedigendes Ergebnis zu erzielen, kreuzweise über die Ackerfläche führen mußte. Es gibt auch vereinzelte Hinweise auf den Einsatz eines Schollen wendenden Pfluges, jedoch scheint diese fortschrittliche Technik noch keine große Verbreitung besessen zu haben. Als weiteres von Tieren gezogenes Ackergerät war die Egge bekannt. Von Menschenhand wurden Spaten, Hacke und Ziehharke geführt, als Erntegeräte Sichel bzw. Erntemesser und Sense.

Mit Bedacht gewählt: Die Siedlungsplätze

Die Landwirtschaft als die wesentliche Existenzgrundlage hat auch das Erscheinungsbild der germanischen Siedlungen in erster Linie geprägt. Daß die Germanen keine Städte bewohnten, war den römischen Zeitgenossen sattsam bekannt. Aber auch im Hinblick auf die ländlichen Siedlungen fiel deren lockere, scheinbar unsystematische Struktur ins Auge: Die Germanen siedelten vereinzelt und verstreut, wie ihnen gerade eine Quelle, eine Feldflur oder ein Gehölz zupaß kamen ý meint Tacitus. In Wirklichkeit waren die Siedlungsplätze sehr wohl mit Bedacht gewählt, unter den Gesichtspunkten von Wasservorkommen, Bodengüte und klimatischer Gunst. Durchgängig ausgeprägt war ferner die Gehöftstruktur: Die offenbar von einer Familie bewirtschaftete Betriebseinheit bestand aus einem Haupthaus sowie einigen Nebengebäuden. Jenes vereinte Wohnung und Viehstall unter einem Dach, diese dienten als Arbeitsräume und Speicher. Es gab Getreidespeicher, die in luftiger Höhe auf frei stehenden Pfosten errichtet waren, um das Erntegut vor Feuchtigkeit und Mäusefraß zu schützen. Andererseits kannte man halb in den Erdboden eingetiefte Grubenhütten, die den Vorräten Schutz vor extremer Kälte und Hitze boten, aber auch als Arbeitshütten genutzt werden konnten, etwa zum Spinnen und Weben. Ebenerdige Häuser, kleiner als das Haupthaus, konnten sowohl als Scheunen dienen wie auch witterungsgeschützte Arbeitsflächen bieten. Ein solches Gehöft wurde nicht selten von einem Zaun umschlossen, der Raubzeug fern und das eigene Vieh zusammenhalten sollte. Höfe solcher Art standen entweder einzeln oder gruppierten sich in mehr oder weniger lockerem Verband zusammen mit anderen zu einem Dorf oder Weiler.

Die Bauformen im Einzelnen sind gebietsweise verschieden. Im norddeutschen Flachland und in Skandinavien war das dreischiffige Wohn- und Stallhaus weit verbreitet, meist in reiner Pfostenbauweise errichtet, mit Wänden aus Flechtwerk und Lehm. Auf den Ostseeinseln Gotland und Öland kannte man aber auch solche Häuser mit trocken gemauerten Wänden. Daneben kamen zweischiffige Häuser vor und waren in anderen Gegenden sogar vorherrschend, also solche mit einer Reihe von Pfosten in der Längsachse, die den Firstbalken getragen haben. Bei den westlichen Ostgermanen waren verhältnismäßig kleine Häuser ohne Innenpfosten üblich, bei denen die Dachlast offenbar auf den Wänden ruhte. Bei solchen Häusern ist häufig eine Schmalseite halbrund wie eine Apsis. Würden wir mehr als nur die Grundrisse kennen - sie allein lassen sich günstigenfalls durch Ausgrabungen erfassen -, so würden wir uns zweifellos einer großen Vielfalt von Konstruktionsformen, architektonischen Details und schmückenden Elementen gegenübersehen, in welchen zweifellos auch Stammesidentität und sonstige Gruppenzugehörigkeit ihren Ausdruck gefunden haben.

© Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001

Verweis Handwerk, Handel und Verkehr
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