Die Zuordnung einer Person zu einer ethnischen Gruppe (z. B. einem Stamm), zu einer sozialen Schicht (z. B. zum »Adel«) oder zu einer Altersklasse muß sich auch in Germanien am deutlichsten in ihrer äußeren Erscheinung ausgedrückt haben, in der Tracht also einschließlich des vor allem von den Frauen getragenen Schmucks und der den Männern eigenen Bewaffnung. Der Unterschied zwischen einem römischen Bürger und einem germanischen Barbaren war aus der äußeren Aufmachung für jeden Zeitgenossen auf den ersten Blick erkennbar, und der einigermaßen Kundige konnte gewiß auch die Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen innerhalb der Barbarenwelt auf Anhieb auseinander halten.
Das war damals nicht viel anders als noch in unseren Tagen. Junge Leute, die in Böhmen vor dem Zweiten Weltkrieg weiße Socken oder Kniestrümpfe trugen, ordneten sich damit der deutschen Volksgruppe zu und waren für ihre tschechischen Mitbürger sofort als Deutsche zu erkennen, was immer sich daraus ergab. Analoge Verhältnisse im 6. Jahrhundert: Damals hat es einen blutigen Streit zwischen Langobarden und Gepiden gegeben, weil die einen die anderen wegen ihrer weißwollenen Wickelgamaschen gehänselt hatten: Sie sähen ja aus wie Stuten mit weißen Fesseln (Paulus Diaconus, Geschichte der Langobarden 1,24). Im gleichen Jahrhundert erkannte der byzantinische Schriftsteller Agathias aus Myrina die germanische Herkunft der Franken an dem »barbarischen Charakter ihrer Tracht und ihrer Sprache«, obwohl sie, wie er einräumt, sonst rechtgläubige und gesittete Menschen seien.
Wir wüßten also Wesentliches über die Identität der Germanen, wenn wir ihre Tracht kennen würden. Leider kennen wir sie nicht besonders gut, und das, obwohl uns mehrere Arten von Quellen zur Verfügung stehen. Die Beschreibungen der antiken Autoren sind jedoch wenig detailliert und beleuchten nur einen kleinen Sektor der germanischen Stammeswelt. Antike Darstellungen von Germanen in der bildenden Kunst sind alles andere als fotografisch getreu und müssen vorgefaßten Meinungen über das Aussehen von Barbaren Rechnung tragen. Im archäologischen Fundmaterial schließlich sind in der Regel nur die unverweslichen Bestandteile der Tracht erhalten, Fibeln, Schnallen und dergleichen. Textilfunde gehören zu den größten Seltenheiten, und auch sie unterliegen unterschiedlichen Erhaltungsbedingungen. So sind Stoffe aus Wolle unter den Moorfunden eher erhalten als solche aus Leinen. Diejenigen Textilfunde, die es erlauben, über Webtechnik, Farbe, Muster und Zuschnitt eines Kleidungsstückes etwas auszusagen, also über die Kriterien, von denen zweifellos die deutlichsten Signale in Bezug auf die soziale Zuordnung ausgegangen sind, sind so selten, daß ein differenziertes Bild der innergermanischen Trachtprovinzen auch nicht ansatzweise erkennbar wird. Wir müssen uns also mit einigen recht allgemeinen Beobachtungen begnügen.
Barbarisch: lange Hosen ...
In ihren Hauptelementen war die von den Germanen getragene Oberbekleidung von der mittelländischen Alltagstracht gar nicht so sehr verschieden. Man trug einen der römischen Tunika entsprechenden Kittel, der in der Grundform aus einer seitlich zusammengenähten rechteckigen Stoffbahn bestand, mit einem Loch für den Kopf und zwei Schlitzen für die Arme. Ärmel konnten angenäht sein, von Frauen wurden auch lose Armlinge getragen. Der Kittel wurde gegürtet, von Frauen fallweise unter der Brust. Er war bei Männern kürzer als bei Frauen, bei jenen kniehoch, bei diesen knöchellang. Dem Anschein nach war dieses Kleidungsstück bei den Germanen nicht so weit geschnitten wie die faltenreich getragene Tunika der Römer.
Unter dem kurzen Kittel trugen die Männer Hosen, dies nun ein echt barbarisches Kleidungsstück. Es hatte bei den Römern - als Entlehnung von den Kelten - nur in Form kurzer, knielanger bracae Eingang gefunden, namentlich beim Militär. Lange Hosen, zumal solche mit angesetzten Füßlingen, waren das deutlichste Kennzeichen einer barbarischen Tracht, das man sich denken konnte.
Der Mantel jedoch, das dritte Element der Oberbekleidung, war wieder bei Römern und Germanen gleichermaßen beliebt: ein großes, rechteckiges Stück Stoff, meist aus Wolle, bei den Frauen gern auch aus Leinen, das über die linke Schulter gelegt und über der rechten mittels einer Fibel zusammengehalten wurde. Dieses großflächige, wirkungsvoll zu drapierende Kleidungsstück bot zweifellos die besten Möglichkeiten, Gruppenzugehörigkeit und sozialen Rang zu demonstrieren. Selbst ein römischer Feldherr - Caecina im Jahre 69 n.Chr. - hielt eine bewußt barbarenmäßige Kostümierung mit buntem Mantel und Hosen für ein geeignetes Mittel, bei der Bevölkerung Norditaliens Eindruck zu machen, berichtet Tacitus (Historien 2,20).
Der Mantel und die anderen Kleidungsstücke wurden nicht, wie wir es gewohnt sind, mit Knöpfen und schon gar nicht mit Reiß- oder Klettverschlüssen verschlossen, sondern mit Fibeln, ersatzweise mit Nadeln oder Bändern bzw. Schnüren. Fibeln, die außer dem praktischen Zweck auch als Zierrat dienten, sind aus Grab-, Schatz- und Siedlungsfunden in so großer Zahl belegt, daß es den Anschein hat, als seien sie in der germanischen Welt in stärkerem Maß als bei den Römern zur Ausstaffierung der Tracht, zu ihrer Anreicherung mit Schmuckelementen benutzt worden. In ihrem Grundschema durchweg von römischen Vorbildern abhängig, haben die Germanen Fibeln nach ihrem eigenen Geschmack geformt. Regionale Varianten zeichnen sich ebenso ab wie zeit- und modeabhängige Formveränderungen. Das gilt auch für andere Accessoires der Tracht wie Nadeln und Gürtelschnallen. |
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... übertriebene Prunkliebe
Schließlich wurde das Erscheinungsbild vor allem der Germanin, aber auch des Germanen in hohem Maße durch den kleidungsunabhängigen, gleichwohl zur Tracht gehörigen Schmuck geprägt. Je nach Stand und Vermögen, vielfach zweifellos auch in gruppenspezifischer Ausprägung trugen die Frauen Halsschmuck aus Glas- und Bernsteinperlen, mit goldenen Anhängern und anderem mehr, sie trugen - wie gelegentlich auch Männer - Hals-, Arm- und Fingerringe, aber so gut wie nie Ohrringe. Schwergewichtiger Goldschmuck ist vor allem in reich ausgestatteten Gräbern der jüngeren römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit überliefert; die römischen Zeitgenossen werden in solchen Schmuckensembles den Ausdruck typisch barbarischer Prunkliebe gesehen haben.
Die allergrößte Schande: Verlust des Schildes
Zum äußeren Erscheinungsbild der Männer gehörte auch die Waffenrüstung, wenn nicht im Alltag, so doch in Kriegszeiten und bei offiziellen Anlässen. Eine verhältnismäßig leichte Lanze wird von Tacitus als die am häufigsten geführte Waffe bezeichnet, und er hat sogar den germanischen Namen registriert: Frame. Schwerter und schwere Lanzen (Spieße) würden, so berichtet er, nur von wenigen getragen. Das stimmt mit der Häufigkeit solcher Waffen im archäologischen Fundbestand gut überein. Auch der ebenfalls von Tacitus überlieferte Sachverhalt, dass man jene Framen sowohl als Wurfgeschoß als auch zum Fechten im Nahkampf einsetzte, läßt sich an Speerschäften, die in nordischen Moorfunden erhalten geblieben sind, anhand von Hiebmarken nachvollziehen. Schilde billigte Tacitus nur den berittenen Kriegern zu; gemessen an der großen Zahl von Funden müssen aber auch Fußkämpfer solche getragen haben. Für gewisse ostgermanische Stämme waren runde Schilde kennzeichnend. Außer der Form wird auch die immer wieder hervorgehobene Bemalung der Schilde kennzeichnend für den Stamm bzw. für den jeweiligen Kampfverband gewesen sein. Das erklärt sehr gut, warum der Verlust des Schildes als allergrößte Schande galt und den Ausschluß aus der Stammesgemeinschaft nach sich zog. Abgesehen vom Schild stand man einer defensiven Bewaffnung eher ablehnend gegenüber; Panzer und Helm wurden nur von wenigen getragen, vielmehr kämpfte man am liebsten mit nacktem Oberkörper ý Tacitus berichtet das jedenfalls, und bildliche Darstellungen sowie der archäologische Befund bestätigen ihn darin.
Es versteht sich, daß die Bewaffnung nicht überall in Germanien dieselbe war und daß sie im Lauf der Zeit merklichen Veränderungen unterlag. Bei den östlichen Stämmen waren nicht nur runde Schilde, sondern auch einschneidige Hiebschwerter beliebt, die man bei den westlichen Germanen in dieser Art nicht kannte. In der jüngeren Kaiserzeit kamen ausgesprochen lange zweischneidige Schwerter auf, ferner Streitäxte, die später in der Völkerwanderungszeit eine bedeutende Rolle spielen sollten. Solche Wandlungen in der Bewaffnung sind selbstverständlich Indizien für Veränderungen in der Kampfesweise und stehen meist in engem Zusammenhang mit militärischen Entwicklungen auch auf der gegnerischen Seite.
© Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001
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