Novaesium, alias Neuss

Germanen: Unterwegs zu höherer Zivilisation

von Hermann Ament 
I. Einleitung VII. Religion und Kultgemeinschaften
II. Wer waren diese Germanen? VIII. Landwirtschaft und Siedlungswesen
III. Die germanischen Stämme IX. Handwerk, Handel und Verkehr
IV. Der Stamm X. Bild und Schrift
V. Soziale Strukturen und Herrschaftsverhältnisse XI. Die germanische Geschichte an ihrem Ziel
VI. Tracht, Schmuck und Bewaffnung XII. Literatur

IV. DER STAMM - MYTHOS UND REALITÄT


Es sind nicht die Germanen insgesamt, die auf der Bühne der Geschichte handelnd und erleidend in Erscheinung treten, es sind vielmehr ihre einzelnen Stämme, wie der Überblick über die Siedlungsgebiete schon gezeigt hat. Im Stamm, der in den lateinischen Quellen als civitas, gens oder natio bezeichnet wird, ist ein wesentliches Element der politischen und sozialen Ordnung der Germanen zu erblicken.

Ein Stamm stellt eine Siedlungsgemeinschaft dar, die über ein bestimmtes Siedlungsgebiet verfügt. Das schließt freilich nicht aus, daß er sich dieses Territorium mit Angehörigen anderer ethnischer Gruppen teilen muß, wie es in eroberten Gebieten verschiedentlich der Fall war. Eine in den Quellen oft genannte Untergliederung des Stammes, der Gau (lateinisch pagus), dürfte in erster Linie ebenfalls als Siedlungsgemeinschaft zu verstehen sein. Ein Stamm unterstand einer einheitlichen politischen Führung, wie auch immer diese im Einzelnen organisiert war. Mit der politischen Struktur war die rechtliche verknüpft: Ein Stamm muß in aller Regel auch eine Rechtsgemeinschaft gewesen sein. Daß seine Angehörigen eine Sprachgemeinschaft bildeten, versteht sich beinahe von selbst, und in aller Regel werden auch gemeinsame religiöse Vorstellungen, werden vor allem gemeinsam vollzogene religiöse Riten, wird also ein gemeinsamer Kult eine ganz wesentliche Klammer für das Einheitsbewußtsein eines Stammes gewesen sein. Nicht zuletzt wurde das Identitätsbewußtsein eines Stammes dadurch gebildet und fortlaufend untermauert, daß er sich durch die bewußt empfundenen gemeinsamen Merkmale von anderen ethnischen Gruppen deutlich unterschied.

Die ständig erfahrene und bewußt gelebte Eigenart des Stammes konnte durch nichts besser erklärt werden als durch die Vorstellung von einer gemeinsamen Abstammung. Die elementare Erfahrung aus dem Lebensraum von Familie und Sippe, daß nämlich aus einheitlicher Abstammung Zusammengehörigkeitsgefühl und Solidarität erwachsen, wurde auf die Ebene des Stammes übertragen. Die Stammesangehörigen verstanden sich als Abkömmlinge eines mythischen Urahns, und es erhöhte das kollektive Selbstwertgefühl, wenn man den genealogischen Ursprung bis weit in mythische Vorzeit zurückverlegte und dem Stammvater möglichst noch göttliche Eigenschaften beimaß. Stamm, gens, natio ý diese Bezeichnungen selbst geben der Vorstellung Ausdruck, daß das wesentlich Verbindende eines Stammes die einheitliche Abstammung seiner Angehörigen sei. Dies war jedoch in aller Regel eine bloße Fiktion und keine historische Realität. Die Fiktion als solche war aber wieder historisch real: Aus dem bei den Stämmen herrschenden, auf die Vorstellung von der einheitlichen Abstammung ihrer Angehörigen gegründeten Zusammengehörigkeitsgefühl erwuchs oft genug zielgerichtetes politisches Handeln.

Allgemein gilt: Stämme sind - und das allein schon widerlegt den Mythos von der gemeinsamen Abstammung - alles andere als stabile Gebilde. Stämme gehen unter, und es bilden sich neue (zum Beispiel Alamannen, Franken, Sachsen), sie können sich teilen (Ost- und Westgoten), und eine abgesplitterte Gruppe kann zu einem selbstständigen Stamm heranwachsen (so vermutlich die Quaden aus den Markomannen). Stämme können ihren Namen und damit in gewissem Umfang ihre Identität ändern (Semnonen/Juthungen; Hermunduren/Thüringer; Winniler/Langobarden), sie können Stammesfremde assimilieren oder selbst in einem anderen Stamm aufgehen (Juthungen ý Alamannen). Eine relativ kleine Gruppe kann zum namengebenden und damit identitätsbestimmenden Kern eines Stammes werden (zum Beispiel die Baiern). Ein solcher Kern kann die Stammestradition durch Abwanderung verpflanzen und die Zurückbleibenden der Namenlosigkeit ausliefern.

Stämme entstehen, existieren, verändern sich und verschwinden gemäß der historischen Situation, entsprechend dem politischen und gesellschaftlichen Umfeld und nach Maßgabe ihrer eigenen politischen Ziele: Durch all das werden sie geprägt und definiert. Der Mythos von der gemeinsamen Abstammung hat positiv bestärkenden Charakter und dient der Legitimierung aktueller Zustände und politischer Ziele.

Zugleich bot aber der Stamm den eigentlichen Rahmen für die vielfältigen Erscheinungen der Lebenswelt der Germanen. Die im Folgenden zu skizzierenden Aspekte der geistigen und materiellen Kultur der Germanen haben in erster Linie auf der Ebene des Stammes (oder von Stammesgruppen) ihre Ausprägung gefunden, auf dieser manifestieren sie sich konkret, anschaulich und detailreich. Jeder Versuch, Phänomene zu definieren, die für das Germanengebiet insgesamt Gültigkeit besitzen sollen, führt meistens nur zu Feststellungen der allgemeinsten Art, die nichts anderes beschreiben als den allenthalben präsenten Gegensatz zwischen Römerreich und Barbarengebiet.

© Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001

Verweis Soziale Strukturen und Herrschaftsverhältnisse
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