Sieht man von Situationen akuter Bedrohung durch äußere Feinde ab, so konnte sich wohl bei keiner Gelegenheit das Gemeinschaftsgefühl eines germanischen Stammes so deutlich und so nachhaltig artikulieren wie im gemeinsam vollzogenen Kult. Götterverehrung und Opferhandlungen begründeten und bekräftigten das Zusammengehörigkeitsgefühl der Stammesmitglieder, und wenn sich mehrere Stämme zu gemeinsamen Riten zusammenfanden, wie es verschiedentlich vorgekommen ist, war dies zweifellos die stärkste Klammer ihres Bündnisses. Daß die Eigenart von Stämmen und Stammesgruppen in religiösen Handlungen ihren tiefsten Ausdruck fand, erklärt die Vielfalt der Erscheinungsformen von Religion in Germanien.
Götter nicht in Wände eingeschlossen
So weiß denn auch Tacitus, unser wichtigster Gewährsmann, an Allgemeingültigem über die Religion der Germanen nur weniges zu sagen; das betreffende Kapitel (Germania 9) umfaßt gerade einmal vier Sätze. Danach wurden Merkur, Herkules und Mars als Götter verehrt; unter ihnen stand Merkur am höchsten, und manche swebischen Stämme sollen auch die Isis verehrt haben. Hier wurden offenbar germanische Gottheiten, deren wirklicher Name im Dunkeln bleibt, aufgrund gewisser, vielleicht nur vordergründiger Ähnlichkeiten mit Gestalten der antik-heidnischen Götterwelt gleichgesetzt, ohne daß wirkliche Identität oder auch nur weitgehende Übereinstimmung vorausgesetzt werden kann. Man kann erwägen, ob mit dem Götternamen Merkur etwa Wodan/Odin gemeint ist, mit Herkules Donar/Thor und mit Mars der Kriegsgott Tiu/Ziu. Aber Gewißheit ist hierin nicht zu erlangen, denn die genannten nordischen Götter treten erst in mittelalterlichen Texten deutlich in Erscheinung. Ob sie unter den dort überlieferten Namen und in ihrer dort beschriebenen Eigenart schon seit der germanischen Frühzeit und bei allen Germanen verehrt worden sind, ist eine nicht zu beantwortende Frage. Man sollte also den Bemerkungen von Tacitus nicht mehr entnehmen, als daß bei den Germanen im Allgemeinen personale Gottheiten beiderlei Geschlechts und unterschiedlichen Ranges verehrt wurden. Tacitus fügt aber noch eine Beobachtung an, deren Gültigkeit sich nicht zuletzt anhand der archäologischen Funde bestätigen läßt: Die Germanen hätten ihre Götter nicht in Wände eingeschlossen. Sie bauten also keine Tempel, kannten keine sakrale Architektur in Holz oder Stein, wie wir sie etwa bei Kelten und Slawen und natürlich bei den Römern finden. Vielmehr verehrten sie ihre Götter unter freiem Himmel, auf Waldlichtungen und in heiligen Hainen und - so können wir angesichts archäologischer Funde ergänzen - an heiligen Wassern, stehenden und fließenden.
Grausame Riten
Recht karg sind also die Ausführungen von Tacitus über die Religion der Germanen im Allgemeinen. Sehr viel anschaulicher und farbiger ist jedoch das, was er von den kultischen Bräuchen einzelner Stämme zu berichten weiß. Einige kleine Stämme beispielsweise, die Anwohner der Ostsee im Bereich des heutigen Norddeutschland gewesen sein müssen, verehrten gemeinsam eine Personifikation der Mutter Erde mit Namen Nerthus (Germania 40). Deren Sitz war ein heiliger Hain auf einer Insel im Meer. Von Zeit zu Zeit wurde sie, in welcher Gestalt auch immer, auf einem von Kühen gezogenen Wagen und verhüllt unter einem Tuch von Ort zu Ort umhergefahren und überall gefeiert und verehrt. Zum Schluß wurden Wagen und Decke, auch die Göttin bzw. ihr Kultbild selbst (numen ipsum), in einem verborgenen See gewaschen, und die Sklaven, die das besorgten, wurden in eben diesem See geopfert - eine dunkle Seite dieses sonst eher heiteren Kultes.
Auch die Semnonen kannten Menschenopfer (Germania 39). In ihren Stammesgebieten an Havel und Spree trafen sich zu bestimmten Zeiten Abordnungen verschiedener swebischer Stämme in einem heiligen Hain, der nur unter strengsten kultischen Vorkehrungen betreten werden durfte, und vollzogen die »grausige Opferhandlung« (ritus horrenda primordia). Der »allherrschende Gott« (regnator omnium deus), dem sie galt, wird mit Namen nicht genannt. Anders bei den ostgermanischen Naharvalen: Unter dem Namen Alces (Alken) verehrten sie ein jugendliches Brüderpaar, das laut Tacitus (Germania 43) »nach römischer Deutung« (interpretatione Romana) mit Castor und Pollux gleichzusetzen war. Ein Priester in weiblicher Tracht vollzog den Kult, auf der Lichtung eines Waldes, den man weit im Osten Germaniens zu suchen hat, irgendwo zwischen Oder und Weichsel.
Opferplätze, an welchen Germanen ihre Gaben einem numinosen Wesen dargebracht haben, oft über einen längeren Zeitraum hinweg bei immer neu sich ergebenden Gelegenheiten, sind aus Germanien in einiger Anzahl bekannt und archäologisch erforscht worden. Dazu gehört der schon 1863 entdeckte Opferplatz an einer Quelle in Bad Pyrmont, der vom Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr. bis zum 5./6. Jahrhundert n. Chr. immer wieder aufgesucht worden ist. Über eine noch längere Zeitspanne hinweg ist an einem kleinen See bei Oberdorla in Thüringen geopfert worden, schon seit der jüngeren Hallstattzeit (6. Jahrhundert v. Chr.) und besonders intensiv seit der Zeitwende von germanischen Gruppen. Bis zum 5. Jahrhundert sind hier vor allem Tier-, aber auch Menschenopfer dargebracht worden. Dort fand sich auch ein roh geschnitztes Idol einer Göttin aus dem 3. Jahrhundert n. Chr.
Besonders eindrucksvolle Komplexe von Weihgaben sind verschiedentlich in Mooren des südlichen Skandinavien zutage gekommen: Skeddemosse auf Öland, Vimose auf Fünen, Illerup, Ejsbøl, Nydam und Thorsberg auf der jütischen Halbinsel. Vor allem Waffen und andere militärische Ausrüstungsteile sind an einst offenen Seen geopfert worden, und zwar offenbar bei wiederholten, aber nicht eben häufigen Anlässen jeweils in großer Zahl. Daraus und aus den sonstigen Fundumständen läßt sich die Vermutung begründen, es habe sich jeweils um die von einem besiegten Feind erbeutete Ausrüstung gehandelt, eine Waffenbeute aus siegreicher Schlacht, die als Dank oder nach vorausgegangenem Gelübde gesamthaft einer Gottheit dargebracht wurde. Diese Sitte hatte im Norden eine alte Tradition: Die von der jütischen Halbinsel abgewanderten Kimbern gaben im Jahr 105 v. Chr. nach ihrem Sieg über die Römer bei Arausio im Rhônetal die gesamte Beute der Vernichtung anheim, und zwar, wie der spätantike Geschichtsschreiber Paulus Orosius schreibt, im Vollzug eines (für die Römer) neuartigen und ungewöhnlichen Verfluchungsritus. Rüstungen und Pferdegeschirr wurden dabei zerhauen, sogar Gegenstände aus Gold und Silber in den Fluss geworfen, die Pferde wurden ertränkt, die gefangenen Feinde an den Bäumen aufgehängt. Auf diese Weise wurde dem Sieger keine Beute zuteil und dem Besiegten kein Mitleid.
© Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001
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