Das 19. Jahrhundert war in Europa bekanntlich eine Zeit einschneidender Veränderungen vor allem in politischer, sozialer und wirtschaftlich-technischer Hinsicht, von denen nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche betroffen waren. So auch die Altertumsforschung, die einen entscheidenden Wandel erlebte. Die große Zeit der Sammler und Antiquare war vorbei und die systematische Erforschung der Vergangenheit setzte sich mehr und mehr durch. Berühmtheit erlangten damals im Deutschen Reich im Bereich der Klassischen Archäologie unter anderem die Grabungen in Olympia/Griechenland und Pergamon/Türkei sowie die Entdeckung von Troja/Türkei.
Aber auch die archäologische Überlieferung in Deutschland bzw. im Rheinland und in Westfalen selbst - antike wie mittelalterliche - geriet zunehmend in den Blickpunkt der Archäologen: 1820 wurde der Vorgänger des Rheinischen Landesmuseums in Bonn, das 'Königlich Preußische Museum Vaterländischer Altertümer in den rheinisch-westfälischen Provinzen', gegründet und 1841 der Verein von Alterumsfreunden im Rheinlande, der noch heute die die 'Bonner Jahrbücher' herausgibt. In der Folge begannen auch die ersten planmäßigen Ausgrabungen, von denen insbesondere die Arbeiten der Altertumskommission für Westfalen in Haltern zu nennen sind, die 1899 unter der Leitung von Carl Schuchhardt einsetzten.
Ein Grund für die hier nur knapp skizzierte Entwicklung war sicherlich das im Zuge der nationalen Bewegungen erwachte Interesse der Öffentlichkeit an der eigenen Vergangenheit. Auch der im 19. Jahrhundert forcierte naturwissenschaftlich-technische Fortschritt bildete eine weitere wesentliche Voraussetzung dafür: Die Grabungsmethoden sowie die Möglichkeiten der Auswertung verbesserten sich und wurden präziser.
Es verwundert daher nicht, daß auch die ersten ernsthaften Bemühungen zur Erschließung der frühen Neusser Geschichte in diese Zeit fallen. Die ersten, eher zufälligen Funde aus römischer Zeit wurden allerdings bereits Jahrhunderte früher gemacht Im Jahre 1591 wurden durch ein Hochwasser im Uferbereich des Rheins zwei Grabsteine der legiones XX und XVI freigespült. 1671 entdeckte man einen weiteren Grabstein, der von einem Veteranen wahrscheinlich einer Auxiliareinheit gesetzt wurde.
Die bei Grimmlinghausen die Erft überquerende römische Steinbrücke der Fernstraße nach Köln ist erst 1586 durch spanische Söldner zerstört worden. Ihre Pfeilerreste wurden ein Jahrhundert später durch Verkauf von der Stadt Neuss zum Abbruch freigegeben. 1808 kamen bei den Aushebungen des Nordkanals durch die Franzosen römische Ziegel mit Stempeln der Legionen, die sie hergestellt hatten, Säulenreste, Gefäße und Münzen ans Tageslicht. Weitere Funden folgten in den nächsten Jahren. Den Schritt hin zu einer gezielten Auseinandersetzung mit den antiken Spuren der Stadt vollzog dann 1839 der preußische Sanitätsrat Dr. Hermann Joseph Jaeger mit der Gründung des ersten Neusser Altertumsvereins, der 'Gesellschaft zur Veranstaltung von Nachgrabungen auf gemeinschaftliche Kosten'. Die aus den Funden der einzelnen Mitglieder gebildeten Sammlungen führten 1845 zur Gründung des Neusser 'Städtischen Museums'. Unter der Leitung von Jaeger wurden auch die ersten Grabungen durchgeführt. So gelang es 1844 auf dem Reckberg im heutigen Stadtteil Grimmlinghausen, südöstlich des Neusser Zentrums mehrere Gräber und Fundamente eines größeren Gebäudes freizulegen, das Constantin Koenen später als 'Kastellvilla' bezeichnete.
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Constantin Coenen (1854-1929) |
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Mit dem Tod Jaegers schwand denn auch das Engagement der anderen Altertumsfreunde. Eine neue Phase wurde dann 1877 mit der Gründung des 'Vereins für Altertumskunde und Geschichte' eingeleitet, zu dessen Mitgliedern auch der damals erst 23 Jahre alte Constantin Coenen zählte. Gemeinsam mit Oskar Rautert führte er die Grabungen auf dem Reckberg fort und legte dabei ein römisches Kleinkastell und die Fundamente eines Wachturmes frei. Sein Hauptinteresse galt jedoch der Lokalisierung des von dem römischen Historiker Cornelius Tacitus (1./2. Jh.) erwähnten Legionslagers Novaesium, das man bis dahin gemeinhin immer noch im Bereich der Neusser Innenstadt vermutete. Koenen hatte allerdings bereits 1875 die These formuliert, daß dieses Standlager außerhalb des Stadtkerns im sogenannten Neusser Feld vor Grimmlinghausen zu suchen sei. |
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Constantin Koenen mit Grabungsmannschaft (1891) |
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Doch erst rund zehn Jahre später, 1886, erhielt er schließlich vom Bonner Provinzialmuseum die Erlaubnis, eine Versuchsgrabung durchzuführen. Diese Sondierung brachte dann den endgültigen Beweis für Koenens Vermutung und ebnete ihm zugleich den Weg für weitere planmäßige Grabungen, die 1887 unter seiner Leitung begannen und nach 13 Jahren im Dezember 1900 abgeschlossen wurden. Bereits wenige Jahre später, 1904, konnte er die Ergebnisse seiner Untersuchungen zusammen mit H. Lehner und J. Nissen im Band 111/112 der Bonner Jahrbüchern veröffentlichen.
Nach dieser Kampagne kam es in den folgenden 25 Jahren zu keinen weiteren, größeren Projekten. In den Jahren 1925 und 1926 gelang Koenen die Ausgrabung der Reste eines größeren römischen Gebäudes in einer Kiesgrube 100 m östlich 'seines' Legionslagers. Er deute es als praetorium im Sinne einer Reiseunterkunft für hohe staatliche Funktionäre. W. Haberey konnte dann weitere Fundamentgruben des Gebäudes ergraben, die er in die Zeit zwischen 70 und 150 datierte. Während der erwähnten Grabungen auf dem Gebiet des Legionslagers kam es durch Lehmabgrabungen der Ziegelei Heinrich Sels zur Entdeckung einer weiteren großen Trümmerstelle östlich des Meertals, zwischen Kölner Straße und dem Nordkanal. Die dort gemachten Funde waren allerdings um mehrere Jahrzehnte älter als die aus dem Legionslager. Zwar kam Koenen zu der richtigen Schlußfolgerung, daß es hier einen weiteren Standort römischer Legions- und Hilfstruppen gab, doch bemühte er sich vergeblich, für seine These auch im Bonner Provinzialmuseum Anhänger zu gewinnen.
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Gustav Müller (1921-1988) |
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Erst 1955 entschloß sich das Rheinische Landesmuseum zu umfangreichen Ausgrabungen in diesem Gebiet. Anlaß dafür waren die Pläne der Stadt Neuss für einen Ausbau der ehemaligen Grünwegsiedlung zu einem neuen Stadtteil und für den Zubringer zur A 57. Finanziert wurden die Untersuchungen zunächst durch die Stadt selbst und seit 1957 durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Sie dauerten bis 1972, wobei das Gros der Grabungen zwischen 1955 und 1961 stattfand. Nachdem zunächst verschiedene Grabungsleiter für nur ralativ kurze Zeit hier tätig waren, erhielt, leitete seit 1957 Gustav Müller die Untersuchungen. Die wissenschaftliche Gesamtleitung des Projektes hatte der damalige Direktor des Rheinischen Landesmuseums, Harald von Petrikovits, inne. Die Ergebnisse von insgesamt 18 Jahren Grabungstätigkeit waren beachtlich: Die Reste von neun verschiedenen Lagern wurden gesichtet und dokumentiert. Für das von Koenen entdeckte Lager konnte eine frühere Holz-Erde-Bauphase und zwei weitere unterschiedliche Steinbauphasen festgestellt werden. Weiterhin wurden die Reste der canabae legionis, verschiedene Straßenzüge und zahlreiche Gräber ergraben und dokumentiert. Insgesamt sollte also die gesamte Siedlungsstruktur des römischen Neuss, d.h. sowohl die Militäranlagen nahe der Erftmündung als auch der Bereich der Zivilsiedlung einschließlich seiner Nekropolen, erforscht werden.
Eine abschließende wissenschaftliche Auswertung dieses überaus ehrgeizigen Forschungsprojektes liegt allerdings bis heute noch nicht vor. So wurden bislang lediglich einzelne Fundkomplexe in mehreren Monographien vorgelegt, die hauptsächlich zwischen 1966 und 1983 in der Reihe 'Limesforschungen', die von der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts herausgegeben wird, als Serie 'Novaesium I-IX' erschienen. Die Ergebnisse der Grabungen, die auch die Befunde mit berücksichtigen, lassen sich dagegen nur in zwei kleineren, älteren Vorberichten von v.Petrikovits und Müller aus den Jahren 1961 bzw. 1975 sowie in dem anläßlich der 2000-Jahrfeier der Sadt Neuss herausgegebenen Band 'Das römische Neuss' von H. Chantrain u.a. von 1984 nachlesen.[ 1 ]
Nach dieser intensiven Forschungsphase kam es dann nur noch zu Projekten kleineren Maßstabs, die von der 1983 eingerichteten Abteilung der Städtischen Bodendenkmalpflege organisiert und durchgeführt wurden. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Kampagnen seien im folgenden listenartig aufgeführt:
Bei Notgrabungsmaßnahmen 1984 im Bereich des Koenen-Lagers konnten dessen verschiedene Bauphasen nochmals untersucht und deren Chronologie überarbeitet werden. Im selben Jahr wurden in Gnadental unter anderem auch im Bereich der Lagervororte römische Gruben aufgedeckt, die Keramik aus dem 1. und 2. Jahrhundert enthielten. Eine dieser Gruben wies vielleicht Reste eines Töpfereibetriebes auf.
Im folgenden Jahr kamen bei Grabungen im mittelalterlichen Stadtkern im Bereich Oberstraße/Rottelsgasse unter mittelalterlichen Horizonten Siedlungsschichten der römischen Zivilsiedlung aus dem 1. bis 3. Jahrhundert zutage. Zudem wurden bei Planierungsmaßmahmen zwischen Grimmlinghausen und Uedesheim eine bis dahin unbekannte Siedlungsstelle in Form einer villa rustica aufgedeckt. Die dort gefundene Keramik stammte aus dem 1. und 2. Jahrhundert.
1987 fand man bei der Untersuchung des mittelalterlichen Marienklosters im Stadtzentrum auch Ausbruchgruben eines römischen Gebäudes aus dem 2. Jahrhundert. Zudem konnten im Bereich der Friedrichsstraße insgesamt 12 römische Brandgräber (1.-2. Jahrhundert) dokumentiert werden, die zum Gräberfeld beiderseits der römischen Ausfallstraße nach Trier gehörten. Bei Erweiterungsarbeiten des Rathauses wurden zwei in der Spätantike verfüllte Brunnen gefunden. Sie enthielten zum Teil verbrannten Bauschutt der Zivilsiedlung von Novaesium und zum Teil Metallteile und Keramikbruch aus der Zeit des frühen 1. bis zur ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts. Die Ausgräber werteten den Befund als Hinweis auf eine umfassende Geländeplanierung nach der Mitte des 4. Jahrhunderts.
1990 gelang in Gnadental auf dem Gelände des Legionslagers die Dokumentation eines bereits 1984 angeschnittenen, nordsüdlich orientierten Entwässerungsgraben einer römischen Straße, deren älteste Phase 7 v. bis 9 n. Chr. und deren jüngste in die erste Hälfte des 3. Jahrhunderts datiert werden. Die Straße verband zunächst die frühen Lager und später auch die Zivilsiedlung mit Trier.
Zwischen 1989 und 1994 wurde auf dem Gebiet des heutigen Golfplatzes 'Hummelbachaue', zwischen den Stadtteilen Norf und Selikum eine römische Fernstraße auf einer Strecke von 750 m untersucht. Neben Resten des Straßendammes konnten drei parallel laufende Straßengräben festgestellt werden. Die Keramikfunde lassen den Schluß zu, daß der Damm nach einer ersten Phase im 1. Jahrhundert n. Chr. von 16 auf 22 m verbreitert wurde.
1990 wurden im Gebiet einer 150 x 200 m großen Sanddüne unmittelbar am Erftufer 60 Gräber einer römischen Brandgräberfeldes ausgegraben. Neben den zahlenmäßig überwiegenden Ossuariengräber gab es auch Bustumbestattungen.
Weiter südlich, in Richtung Norf, wurden 1992 und 1993 schließlich auch die Reste eines spätantiken Militärlagers sowie Teile der von Marseille kommenden römischen Fernstraße gefunden, die kurz vor ihrem Endpunkt am Rhein bei Gut Gnadental die Erft quert.
Mit Hilfe von Luftbildprospektion und großflächig durchgeführten Geländebegehungen konnten zwischen 1990 und 1994 zwei bislang "unbekannte römische Straßen und etwa ein Dutzend neuer römischer Siedlungsstellen, darunter ein vicus in Neuss-Rosellen lokalisiert" werden.[ 2 ]
1994 kam es dann zum Abschluß der Ausgrabungen der villa rustica im Meertal/Gnadental und des fabrica-Baus im Bereich der canabae unmittelbar nördlich vor dem Koenen-Lager.
Im Rahmen von baubegleitenden archäologischen Untersuchungen zwischen 1996 und 1999 wurden auf Gut Gnadental, in der Nähe der Erftmündung, die Reste eines spätantiken Kleinkastells aus dem frühen 4. Jh. freigelegt, das wahrscheinlich der Sicherung jener oben erwähnten, aus südwestlicher Richtung kommenden Fernstraße diente.
Im Vorfeld von Baumaßnahmen kam im Jahr 2001 bei Grabungen im Innenbereich des ehemaligen Neusser Telegrafenamtes ein römisches Körpergrab aus dem 4. Jahrhundert zu Tage. An der Kölner Straße im Breich des augusteischen Lagers und der canabae legionis konnten zwei römische Brandgräber des 2. Jahrhunderts geborgen werden.
Im Rahmen der Umgestaltungsmaßnahmen von Teilen der Neusser Innenstadt finden seit März 2002 umfangreiche Ausgrabungen auf dem Areal des Omnibusbahnhofes statt, die nähere Aufschlüsse über die antike und mittelalterliche Siedlungsgeschichte erbringen sollen. Was die Spätantike betrifft, so konnte bislang durch die Untersuchungen erstmals anhand von Siedlungsbefunden die bereits von H. v.Petrikovits geäußerte Ansicht, daß die Zivilsiedlung im frühen 4. Jh. wieder bewohnt war, bestätigt werden. Daneben kamen auch zahlreiche Funde und Gebäudereste aus dem 2. und 3. Jh. zutage. Die bisherigen Ergebnisse zur mittelalterlichen Phase finden sich zusammengefaßt in einer Pressemitteilung der Stadt Neuss und einem Artikel der WZ von 2002 bzw. 2003.
Literatur:
- H. Chantraine u.a., Das römische Neuss (Stuttgart 1984).
- Er entdeckte Novaesium: Constantin Koenen vor 50 Jahren gestorben, Rheinisches
Landesmuseum Bonn 6/1979, 85.
- K. H. Lenz, Rez. zu G. Simpson, Roman weapons, tools, bronze equipment and brooches from Neuss: Novaesium excavations 1955-1972, BAR S 862 (Oxford 2000), Bonner Jahrbücher 201, 2001 (2004) 606 f.
- Novaesium - Neuss zur Römerzeit, Schriftenreihe der Volkshochschule Neuss, Heft 4 (Neuss 1989).
- Chr. B. Rüger, Zur Erforschung der römischen Zeit im Rheinland und in Westfalen, in: H. G. Horn (Hrsg.), Die Römer in Nordrhein-Westfalen (Stuttgart 1987) 13-26.
- H. Seeling, Constantin Coenen (1854-1929). Leben und Werk eines Archäologen (Neuss 1984).
[ 1 ] Neben den genannten Fundvorlagen in der Reihe 'Limesforschungen' wurden noch die Glasfunde sowie die Waffen, Werkzeuge, Bronzefunde und Fibeln der Grabungen von 1955 bis 1972 veröffentlicht: S. M. E. van Lith, Die römischen Gläser von Neuss. Gesamtkatalog der Ausgrabungen 1955-1978, Bonner Jahbücher 194 (1994) 205-340; G. Simpson, Roman weapons, tools, bronze equipment and brooches from Neuss: Novaesium Excavations 1955-1972, BAR S 862 (Oxford 2000). Zudem sei inzwischen die Revision der umfangreichen Grabungsunterlagen, die auch eine Bearbeitung des Nachlasses von Müller mit einschließt, durch M. Gechter und N. Hanel abgeschlossen. Die Ergebnisse sollen demnächst im Band 'Die augusteisch-tiberischen Militärlager von Novaesium. Die Befunde, Novaesium X' ausführlich vorgelegt werden.
[ 2 ] S. Sauer - M. Kaiser in: H. G. Horn u.a. (Hrsg.), Ein Land macht Geschichte - Archäologie in Nordrhein-Westfalen, Ausstellungskat. Köln/Münster 1995/96 (Mainz 1995) 137.
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