Verglichen mit der archäologischen Überlieferung zu den Neusser Lagern, die in den Jahren um 16 v.Chr. beginnt, taucht der erste Beleg für den Namen Novaesium relativ spät auf, nämlich mehr als ein halbes Jahrhundert später im Bericht des römischen Historikers Tacitus (hist. IV, 12-79; V 1-26) über den Bataveraufstand im Jahre 69 n.Chr. Die Übereinstimmung des dort genannten Lagers mit der bei Neuss ausgegrabenen Anlage, dem sogenannten Koenenlager, wird zum einen durch die archäologisch erschlossene 'Baugeschichte' und zum anderen durch die Angaben sowohl in der antiken geographischen Literatur als auch bei spätantiken Autoren bestätigt. Allerdings sind bis heute in Neuss keine Inschriften gefunden worden, welche den Namen nennen.
Auf Grund der Tatsache, daß die Römer ihre Stützpunkte oftmals an der Stelle oder in der Nähe einheimischer Siedlungen errichtet hatten, wird davon ausgegangen, daß es auch auf dem Territorium des römischen Novaesium eine germanische oder keltische Vorgängersiedlung gegeben hat. In seinen Commentarii de bello Gallico nennt Caesar unter den linksrheinischen germanischen Stämmen auch die Eburonen, die zwischen Maas und Rhein zu lokalisieren sind. Das spätere Lager Novaesium befand sich also in deren ehemaligen Stammesbereich. Nach der Zerschlagung des Stammes durch Caesars Truppen im Sommer 54 v. Chr. lag das Gebiet mehrere Jahrzehnte brach und wurde erst unter der Statthalterschaft des Agrippa seit den 30er Jahren sukzessive durch die rechtsrheinischen Ubier wiederbesiedelt. Vor diesem Hintergrund ist es sehr wahrscheinlich, daß eine eburonische bzw. ubische Siedlung vor der Gründung von Novaesium existierte, wofür es auch archäologische Indizien gibt.
Nun ist in vielen Fällen überliefert, daß die römischen Besatzer die Namen ihrer Lager oder Siedlungen unter Hinzunahme einheimischer Bestandteile bildeten, z. B. indem der Namen der ansässigen Bevölkerungsgruppe oder deren topographische Bezeichnungen eingebunden und latinisiert wurden. Als Beispiele sind zu nennen Batavodurum in den heutigen Niederlanden, der Hauptort der Bataver, und Bonna, das Legionslager auf dem Gebiet des heutigen Bonn, dessen Namen "originär ubisch zu deuten ist" [ 1 ]. Es wird daher vermutet, daß auch Novaesium ein solches Kompositum und z.B., wie Bonna, ubischen Ursprungs ist.[ 2 ] Dazu paßt die von Franz Cramer 1905 vorgeschlagene Ableitung der Stammsilbe Nov- von einer kelto-germanischen Gewässerbezeichnung, wie bei Nov-aria und Novi-antum, statt von dem lateinischen novio ("neu"), wie bei Novio-dunum (z.B. Nyon am Genfer See) und Novio-magus (z.B. Neumagen a. d. Mosel).[ 3 ] Entsprechend wäre auch das angefügte -aes- im Zusammenhang mit einem Flußnamen zu deuten. Schließlich lag und liegt die Siedlung am Zusammenfluß von Erft und Rhein. Dagegen favorisieren andere Forscher die Lesung des Stammes Nov- als von dem lateinischen novus, "neu", abgeleitet.[ 4 ] Die Frage, ob das folgende -aesium dagegen vom Keltischen, Germanischen oder ebenfalls Lateinischen kommt, vermögen sie indes nicht zu entscheiden. Da die römischen Quellen zur Etymologie des Namens schweigen und einheimische Schriften nicht existierten, ist eine endgültige Lösung dieses Problems kaum zu erreichen.
Ergänzend zu dem bereits Gesagten wird im folgenden der erwähnte Artikel von Cramer im Wortlaut zitiert:
In dem monumentalen Werk "Novaesium" (Bonner Jahrbücher, Heft 111/112, Bonn 1904) sagt Nissen (S. 61), das Dasein einer gallischen, vorrömischen Siedelung an der Stelle oder in der Nähe des römischen Lagers werde durch den "Namen Novaesium, dessen Stammsilbe in keltischen Landen so oft wiederkehrt, erwiesen oder wenigstens wahrscheinlich gemacht". Nissen hat durchaus recht gesehen, wenn er Nov-aes-ium als keltische Benennung ansah; aber die Beispiele, die er (nach Holder, Altkeltischer Sprachsatz) für den Stamm Nov- anführt - Novaria, Novidunum, Noviantum, Novientum, Novigentum, Noviodunum, Noviolium, Noviomagus, Novionia, Novioregum, Novioritum, Noviovastum, Novodunum - gehen doch nicht alle auf denselben Stamm zurück; es gibt mindestens zwei Stämme des gleichen Lautbestandes (nov-), aber mit verschiedener Bedeutung und von verschiedener Herkunft. Novio-dunum (woraus Novo-dunum verschliffen ist) sowie Novio-magus zeigen unzweifelhaft den Stamm Novio- = "neu"; sie bedeuten also "Neuburg" bzw. "Neufeld" und gehören in dieselbe Kategorie wie unsere deutschen "Neuerburg, Neustadt, Neudorf" usw. Eben dahin gehört auch Noviolium, das - nach Analogie zahlreicher gleichartiger Bildungen - aus Novio-ialum entstanden sein muß und "Neu-acker" bedeutet (vgl. Holder a.a.O. unter der Rubrik iaio-). Anders aber steht es mit Bildungen wie Nov-aria, Novi-antum u. ähnlichen. Nov-ar-ia ist ein Flußname (mit gleichnamigem Ort, jetzt Novara), im Pogebiet (Ptolem. 3, l, 29), ebenso Nov-is-on-a, ein Bach "in saltu Jurensi" (Acta Sanctorum 21 nov. p. 471); endlich gibt's einen britannischen Flußnamen, der scheinbar ganz den Stamm Novio- = "neu" zeigt: Novios an der Westküste Englands (jetzt Nith; Ptolem. 2, 3, 2). Es ist aber ohne weiteres klar, daß hier ein anderer Wortstamm zugrunde liegen muß. Das Richtige hat schon Marjan gesehen, der auf das französische Wort la noue = 'terre grasse et humide' aufmerksam macht. (Vgl. meine Rhein. Ortsnamen S. 92 f.). Das Wort bedeutet aber auch, worauf mich Herr Ref. a.D. Karl Laufs (Godesberg) hinweist, soviel wie: 'Abzugsgraben, Flutgraben'. Daraus ergibt sich, daß Nov- ein keltischer Wassername ist. Auch der in nicht weniger als 37 Exemplaren nachgewiesene Name Novi-ant-um ist, als Weiterbildung zu Novios, eine ursprüngliche Gewässerbezeichnung; ein Beispiel sei genannt: auf heute deutschem Sprachgebiet liegt Noviant, im Kreise Berncastel. Das Bildungselement -ant- (ursprünglich auch seinerseits ein selbständiger Gewässername, vgl. meinen Aufsatz über Aliso in der Westd. Zeitschr. Bd. 21 S. 25 ff.) ist außerordentlich häufig: Amantia (Amance), Carantonus (Charente), Albantia, Argantia, Balcantia (j. Boquencé, Dép. Orne), Caspantia (j. Gersprinz), Cusantia (j. Cousance, Dép. Jura), Premantia (Prims); vgl. Druentia, Cosentia, Visorontia (Veserance) usw.
So wird auch Nov-aes-ium diesen Stamm Nov- zeigen, mag der Name nun hier auf das sumpfige Gelände in dem Winkel zwischen Erft und Rhein hinweisen, oder mag ein Bachname zugrunde liegen. Das letztere scheint mir das Wahrscheinlichere.
Novaesium erscheint in dieser Form bei Tacitus, hist. 4, 26, 33, 35 und öfter; Ptolemäus schreibt Nouaisiou (2, 11, 14); Ammianns Marcellinus hat Novaesium (wohl auch Itinerarium Antonini). Ich halte beide Lautformen im Grunde für identisch. Das taciteische Novaesium entspricht der griechischen Schreibweise mit -ai-: dieser Diphtong hatte damals den Lautwert eines é. Hätte Ptolemäus statt dessen griechisches -e - gesetzt, so lag vermöge des "Itacismus" die Verwechselung mit dem i-Laut nahe. übrigens ist der Vokal - e - in Novaesium in merowingischer Zeit tatsächlich zu -i- verschoben: Gregor von Tours (hist. Frac. 2, 8, 19) schreibt: circa Nivisium castellum. Ich halte -aes- bzw. -es- (später -is-) für jenes in Flußnamen so oft vorkommende s-Suffix, über das ich in der erwähnten Aliso-Abhandlung gesprochen (a.a.O. S. 265 f.): so würde sich Nov-aes-ium zu dem gallischen A1-es-ia stellen, das ebenfalls ursprünglicher Gewässername ist (vgl. ebenda S. 256). Man wird auch die oben erwähnte Nov-is-on-a herbeiziehen können, die gleichermaßen dies Suffix zeigt, nur durch ein weiteres Suffix -on- (urspr. -an-) vermehrt (wie z. B. in Alixan = Al-is-an-us im Departement Drome: a.a.O. S. 257).
Wir erwähnten vorhin die Form Niv-is-ium bei Gregor von Tours. Dieser umgelautete Stamm Nov- erscheint - wie ich glaube - noch in einem anderen topographischen Beispiel des Neusser Gebiets: ich meine Nievenheim. Der Ort, mit bemerkenswertem altem Kirchturm, hat sogar einem Gau den Namen gegeben. Schon im Jahre 796 heißt es: in pago Nivan-heim (Lacomblet, Niederrh. Urkundenb. I no. 7 S. 5), ebenso im Jahre 801 (ebenda no. 20 S. 12); 816 begegnet die etwas verschliffene Form niuenem (de illa foreste quae est super Fluvio Arnapa in pago niuenem, ebenda no 33 S. 17) und im folgenden Jahre: in pago nivenhem (no. 34 S. 17 und no. 35 S. 18). Noch im Jahre 1155 und selbst 1224 und später begegnet genau diese Form, niemals dagegen etwa Niuwen-heim oder ähnlich, so daß an "Neuenheim" nicht entfernt zu denken ist. Wie sollte auch jener uralte Vorort eines Gaues eine "neue" Gründung sein! Es ist also nicht ausgeschlossen, daß auch in Nievenheim jener Stamm Nov-, später Niv-, steckt, der in Novaesium zutage tritt.
[ 1 ] M. Gechter, Das römische Bonn - Ein historischer Überblick, in: M. van Rey (Hrsg.), Geschichte der Stadt Bonn, Bd. 1: Bonn von der Vorgeschichte bis zum Ende der Römerzeit (Bonn 2001) 58.
[ 2 ] Ebenda 58.
[ 3 ] F. Cramer, Beiträge zur Geschichte des Niederrheins, Jahrbuch des Düsseldorfer Geschichtsvereins 19 (Düsseldorf 1905)
231 - 233.
[ 4 ] Ch. B. Rüger, Eine kleine Garnisionsgeschichte des römischen Neuss, in: H. Chantraine u.a., Das römische Neuss (Stuttgart 1984) 18 (L. Weisberger zitierend) und L. Rübekeil in: H. Beck - D. Geuenich - H. Steuer (Hrsg.), Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 21 (Berlin 2002) 119-121 s.v. Neuss.
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