Novaesium, alias Neuss

Völkerwanderung: Die Germanen dringen ins römische Imperium

von Gerhard Wirth 
I. Einleitung V. Hunnen, Germanen, Römer
II. Vorformen und Voraussetzungen VI. Das Ende der Epoche I
III. Der große Sturm VII. Das Ende der Epoche II
IV. Die germanischen Stämme VIII. Literatur und Verweise

IV. Die germanischen Stämme


Was sich demnach am Anfang des 5. Jahrhunderts abzeichnete, war eine allgemeine Verlagerung der Ostgermanen nach Westen, wobei sich die leer gewordenen Räume schnell durch neue Zuwanderung füllten. Neue Namen traten in den Vordergrund, aber nach wie vor konnte von einer ethnischen Geschlossenheit keine Rede sein. Anderseits bedeuteten Wanderung und Abzug niemals eine vollständige Räumung der bisherigen Wohnsitze. So blieben Reste der ursprünglichen Stämme in den Heimatgebieten zurück, in Skandinavien wie in Nord- und Nordostdeutschland: Geiserich hatte Verbindung mit Stammesgenossen in Schlesien, noch im 6. Jahrhundert kehrten Teile der Heruler aus der Slowakei nach Skandinavien zurück, und auf der Krim hielten sich Teile der Ostgoten mit eigener Sprache und Lebensformen bis in das 15. Jahrhundert. Zurückbleibende Sweben spielten später bei der Genese des baierischen Stammes eine Rolle. Im östlichen Europa traten nun verstärkt die Langobarden auf, die eine Wanderbewegung von der Elbmündung zum Donauknie beendeten; in ihrer Nähe saßen die Gepiden, dazu Rugier, Skiren und Heruler. Zugleich aber begannen die Slawen mit ihrer umfassenden Einsickerungsbewegung, die sie in wenigen Jahrzehnten in die Räume um die westliche Ostsee, nach Böhmen und an die untere Donau führte.

Burgunder, Franken, Westgoten

Im Westen wiederum setzten die Alamannen ihre Expansion nunmehr in das nördliche Gallien fort, während große Teile der ihnen räumlich nahen Burgunder nach der Landnahme westlich des Rheins ein Reich mit dem Zentrum Worms gründeten (413) . Im nördlichen Gallien wiederum scheint es in den ersten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts zu einer Verbindung von Rheinfranken und Saliern gekommen zu sein, auch für Letztere wurden nun erstmals Herrschernamen bekannt (um 440 Chlodio aus dem wohl fiktiven Geschlecht der Merowinger). Um die Mitte des Jahrhunderts war das Gebiet von der Nordsee bis nach Flandern Territorium fränkischer Teilkönigtümer. In Gallien gelang nach der Vernichtung des letzten Usurpators, Jovinus (411-413), nochmals die Stabilisierung römischer Oberhoheit. Ein Vertrag mit den Westgoten in Südwestgallien 416 brachte diese nach Spanien, wo sie erfolgreich die Wandalen bekämpften. Galla Placidia kehrte nach Verlust von Kind und Gatten nach Ravenna zurück. Ihr zweiter Gatte, Constantius(III.), vorerst oberster Heermeister, 421 Mitkaiser des Honorius, konnte in Südgallien die Lage bereinigen. 418 kam es zur endgültigen Ansiedlung der Westgoten in Aquitanien, wo nach Regelung der Bedingungen ein eigenes Reich unter einer neuen Dynastie entstand: das Tolosanische Reich, benannt nach der Hauptstadt Tolosa, dem heutigen Toulouse. Theoderich I. (418-451), vielleicht Schwiegersohn Alarichs, versuchte in den folgenden Jahren mehrfach die Expansion nach Osten wie ans Mittelmeer, konnte aber aufgehalten werden.

Der Tod Constantius'III. noch im Jahr seiner Erhebung und der des Honorius 424 führte zur Usurpation des Johannes, der jedoch durch oströmische Truppen 425 abgesetzt und getötet wurde. Die Regierung für den unmündigen Valentinian III. (*419), Sohn des Constantius, führte bis zur Mündigkeit seine Mutter Galla Placidia. Nach Anfangsschwierigkeiten und Machtkämpfen am Hof gelang es dem magister militum und patricius Aetius, die römischen Interessen in Gallien durchzusetzen, dies vor allem mit Unterstützung durch hunnische Truppen. Die westgotische Expansion wurde aufgehalten, das Burgunderreich 436 vernichtet, doch der Rest der Burgunder 443 in Savoyen angesiedelt, wo er schnell wieder erstarkte und zum wichtigsten Faktor in Gallien wurde. Die römische Enklave zwischen Seine und Loire blieb erhalten, und erfolgreich konnte Rom auch in dynastische Auseinandersetzungen zwischen den Franken eingreifen. Erst mit der Ermordung des Aetius auf Betreiben Valentinians III. 454 und mit dessen Tötung 455 brach in Rom alles zusammen.

Hilferuf aus Britannien

In Britannien war durch den Abzug der römischen Truppen unter Stilicho wohl spätestens 407 ein Vakuum geschaffen worden, das die Schutzlosigkeit der einheimischen romanisierten Bevölkerung gegenüber den Einfällen keltischer Stämme des Nordens, der Pikten und Skoten, bedeutete. Schon im 4. Jahrhundert waren Germanen vom Festland als Söldner (für das römische Heer) oder Arbeitskräfte angeworben worden. Nun riefen die bedrängten Einwohner die Sachsen, Angeln und Jüten zu Hilfe, die an der Deutschen Bucht, in Friesland und wohl auch an der Kanalküste saßen. Die Sachsen hatten schon seit längerer Zeit als Seefahrer die Verbindung zwischen den nordeuropäischen Ländern aufrechterhalten, aber auch als Seeräuber die Küsten bedroht. Nun kamen sie als militärische Verbündete ins Land, später auch als Siedler. Zwar ist von einer wirklichen Landnahme vorerst kaum zu sprechen, doch scheint der Druck der Zuwanderer keltische Bevölkerungsteile nach Westen (Wales, vielleicht auch Irland) und in die Bretagne abgedrängt zu haben.

Die Reichshälften driften auseinander

All diesen Entwicklungen hatte das Imperium wenig entgegenzusetzen. Die Schwäche des Honorius verhinderte ein energisches Wahrnehmen der römischen Interessen; loyale, fähige Heerführer mit staatsmännischen Fähigkeiten oder entsprechenden Erfahrungen wie Stilicho oder Aetius scheiterten auf Dauer, und Constantius III. starb allzu früh. Die weitere Entwicklung des Imperiums aber war von den Ereignissen der Völkerwanderung entscheidend mitbestimmt. Zwar hatte sich bis zum Tode Theodosius' I. die Reichseinheit aufrechterhalten lassen, doch mit der Teilung unter seine Söhne 395 begann, trotz äußerlichen Zusammenhalts, gemeinsamer Gesetzgebung, gegenseitiger militärischer Unterstützung und (seit 437) neuer ehelicher Verbindung zwischen den Höfen ein Auseinanderdriften der Reichshälften, das immer deutlicher werden sollte.

Hatte die Wanderung der germanischen Stämme das westliche Reich mehr und mehr geschwächt, sein Territorium verkleinert und zu einer Barbarisierung weiter Teile geführt, so war im Osten diese Bewegung schnell zu Ende gegangen; das Reich konsolidierte sich wieder, wobei Wirtschaft, Finanzen, Handel und alles Leben kaum eine Einbuße erlitten. Auch die religiöse bzw. kirchliche Entwicklung ging im Osten eigene Wege. Eine materielle Schwächung bedeuteten hier vorerst nur die Kämpfe gegen das Hunnenreich im Norden und die Auseinandersetzungen mit den Sassaniden im Osten. Ähnlich wie der Westen machte sich auch das Ostreich die militärischen Kräfte der Germanen zunutze; die militärische Führungsschicht bestand bald zum größten Teil aus Zugewanderten. Völlig abhängig von ihnen aber wurde Ostrom nicht. Im Westen hingegen waren es zunehmend Germanen oder germanisch Versippte, die als Heerführer und patricii die Politik bestimmten: Stilicho (ermordet 408), Aetius (ermordet 454), danach Ricimer (455-472) und Gundobad (später König der Burgunder).

Um die Mitte des Jahrhunderts scheinen sich die Bewegungen der ersten Jahrzehnte beruhigt zu haben. Zwar waren große Territorien im Westen verloren gegangen, das mittlere und südöstliche Gallien aber unter kaiserlicher Kontrolle geblieben, während die neuen germanischen Reiche gut daran taten, sich auch der vorhandenen romanisierten Volksteile zu bedienen und demnach auf allzu rigorose Formen der Unterwerfung zu verzichten. Die Ausnahme in Afrika wurde bereits erwähnt. Auch der Christianisierung in diesen Reichen wurden Schwierigkeiten, soweit erkennbar, nicht gemacht. Aus römischer Sicht mochten solche Verluste wenig zählen. Es ging dabei zwar um Provinzen, aber deren neue Herren waren ausnahmslos als Bundesgenossen des Imperiums anzusehen.

Bedeuteten somit die Abtretungen im Grunde lediglich eine Verschiebung innerhalb der Struktur des Imperiums, so ließ sich dieses sehr wohl als noch bestehend definieren. Dies ungeachtet dessen, dass ab 442 das Wandalenreich sich als souverän bezeichnete und später Eurich (466-484) für das Westgotenreich das Bündnisverhältnis zu Rom offiziell aufkündigte. Als ein Fortschritt musste die Ablösung des stets instabilen germanischen Heerkönigtums durch etablierte Dynastien gelten, die zur Sicherung ihrer Stellung in jedem Fall auf Beziehungen zu Rom bzw. Ravenna angewiesen waren. Freilich riefen sie in Verfolgung ihrer Arrondierungsabsichten auch immer wieder neue kriegerische Auseinandersetzungen hervor und erzwangen weitere territoriale Verluste. An einer ernsthaften Schädigung des Imperiums oder dessen Vernichtung indes konnten sie nicht interessiert sein, auch wenn sie sich gelegentlich zum Kampf gegen dieses verbanden.

© Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2004

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