Novaesium, alias Neuss

Völkerwanderung: Die Germanen dringen ins römische Imperium

von Gerhard Wirth 
I. Einleitung V. Hunnen, Germanen, Römer
II. Vorformen und Voraussetzungen VI. Das Ende der Epoche I
III. Der große Sturm VII. Das Ende der Epoche II
IV. Die germanischen Stämme VIII. Literatur und Verweise

III. Der große Sturm


Die Abschnitte der germanischen Invasion wechselten mit solchen der Ruhe und Erholung für das Imperium. So gelang es von 181 bis 232, das unter Mark Aurel Zerstörte wieder aufzubauen; die Zeit zwischen Diokletian und dem Auftreten der Hunnen war etwa doppelt so lang. Konstantins Nachfolger konnten das Wiedergewonnene halten. Constantius II. kämpfte 357 bis 359 gegen die Sarmaten an der unteren Donau. Währenddessen gelang es seinem von ihm als Caesar in Gallien eingesetzten Vetter Julian, die Grenze am oberen und mittleren Rhein gegen alamannische Landnahmeversuche und fränkische Invasionen zu sichern, wobei er das bereits verlorene Köln wiedergewann. Nach dem Ende der konstantinischen Dynastie 363 vermochte Valentinian I. (364-375) an der gleichen Stelle die Grenzen zu halten, musste aber bereits im Hinterland eine neue Ansammlung gefährlicher Kräfte registrieren, die weder durch Vorstöße über den Rhein noch durch ein an der ganzen Grenze errichtetes Verteidigungssystem mit einer Vielzahl von Kastellbauten in Schranken zu halten waren. Ähnliches war der Grund für sein rigoroses Vorgehen gegen die Quaden an der Donau; während der Einleitung entsprechender Maßnahmen starb er 375 unerwartet.

Die Hunnen lösen Panik aus

Danach aber kam es schlagartig zur Katastrophe, die das Imperium unvorbereitet traf. Das nomadische Turkvolk der Hunnen, in der Wüste Gobi beheimatet, hatte in einem Jahrhunderte währenden Wanderzug nach Westen seine Lebensformen den jeweils vorgefundenen Bedingungen angepasst und sich auch mit anderen, mongolischen oder indoiranischen Elementen verbunden. Der Name, seit dem 2. Jahrhundert bekannt, umschreibt keine in sich fest geschlossene Ethnie. Eine dauerhafte, zentrale Führung der stets weit voneinander lebenden einzelnen Stämme oder Gruppen ist nur im Falle größerer Unternehmungen nachweisbar, für eine Verwandtschaft zu anderen, nördlich und nordöstlich des Römischen und des Persischen Reiches lebenden, eher sesshaften Stämmen wie den Hephthaliten (»Weiße Hunnen«) spricht außer der Bezeichnung wenig. Die Kampf- und Lebensweise der Hunnen war die von Reiternomaden, wobei vieles von anderen Völkern übernommen scheint, so Bogen und Lasso als Waffe von indoiranischen Stämmen. Ähnliches gilt für Gebrauchsgegenstände oder künstlerische Ausdrucksformen wie den Tierstil, eine Anleihe von sibirischen Völkern. In der Religion der Hunnen spielte der Schamanismus eine wichtige Rolle.

Die antiken Autoren betonen die Grausamkeit und tierische Lebensweise des Volkes. Es mag dies der Eindruck sein, den es auf die Zeitgenossen machte. Die Hunnen hatten auf der Suche nach immer neuen Weidemöglichkeiten die indoiranischen Alanen zwischen Kaukasus und Donau unterworfen, eine Völkerschaft von ähnlichen Lebensformen, und brachen danach, wohl zu Beginn der Siebzigerjahre des 4. Jahrhunderts, in das Reich der Ostgoten (die damals noch Greutungen oder Ostrogothen hießen) am Schwarzen Meer ein, das sie im ersten Ansturm zerstörten; der gotische König Ermanarich kam dabei ums Leben. Ein Widerstandsversuch der Westgoten (damals Terwingen) unter dem iudex Athanarich scheiterte ebenfalls. Die Folge war, dass die Masse des Volkes panikartig um Schutz und Aufnahme im Imperium nachsuchte und die Donau überquerte, dies zusammen mit Resten der Ostgoten und selbst Hunnen, die sich ihnen anschlossen. Athanarich mit seinen Anhängern suchte sich eine Zeit lang im westlichen Karpatengebiet zu halten. Für Valens, den Kaiser der östlichen Imperiumshälfte und Bruder Valentinians, war dieser Zustrom angesichts bevorstehender Kriege im Osten nicht unwillkommen. Doch bewirkte das üble Verhalten regionaler Befehlshaber gegen die Ankömmlinge, dass diese sich als betrogen ansahen, und, an sich integrationsbereit, unter dem Heerkönig Fritigern schließlich zusammen mit ihren Verbündeten 378 das kaiserliche Heer bei Adrianopel vernichteten. Unter den Toten war auch Valens selbst.

Dem Nachfolger des Valens, Theodosius I., gelang es zwar 382 durch einen Vertrag, die wieder aufgesplitterten, beim Umherziehen bis nach Griechenland dezimierten Goten in Thrakien und wohl in der heutigen Dobrudscha anzusiedeln. Es waren dies aber kaum Verbündete (Föderaten, foederati), sondern eher rechtlose Neuankömmlinge (dediticii). Gleiches unternahm Gratian, der Sohn Valentinians und Kaiser des Westens, in Pannonien mit ostgotischen, hunnischen und alanischen Resten. Zu einer Integration freilich kam es kaum mehr, und nicht lange danach wurden die neuen Untertanen an andere Stellen versetzt, während zugleich immer wieder kleinere Gruppen versuchten, über die Donaugrenze in das Imperium zu gelangen. Aus den Aufgenommenen bildete Theodosius militärische Verbände, die er zum Teil nach Kleinasien und selbst nach Ägypten abkommandierte.

All dies läßt sich als eine Maßnahme ganz im traditionellen Sinne verstehen. Doch 395, nach Teilnahme der neuen Untertanen am Krieg gegen den Usurpator Eugenius in Italien, erhoben sich die im Jahr 382 angesiedelten Westgoten erneut, verließen ihre Wohngebiete und wählten sich in Alarich einen König. Erstmals entstand so ein germanischer Reichsverband auf römischem Boden, und dies mit eigenen Interessen, neuen, bis dahin nicht vorstellbaren Absichten und zugleich auch den Möglichkeiten, diese gegenüber dem Kaiser durchzusetzen. Die Gründe dafür sind unbekannt. Einen Ausschlag mögen die schlechten Bedingungen in dem ausgeplünderten Land gegeben haben und die Unmöglichkeit, sich zu ernähren, dazu nach wie vor die Furcht vor den nicht allzuweit entfernten Hunnen. Zweifellos bestand auch dieses neue Volk nicht nur aus Westgoten, sondern einer Vielfalt von Elementen und Gruppen aus anderen Stämmen, die alle nun in ihm aufgingen. Mit dieser Reichsgründung begann ein neuer Abschnitt der Völkerwanderung.

Die erste Teilung in Ost und West

Stlicho
[Voll-Ansicht]
Nach dem Tode des Theodosius 395 war das Imperium unter dessen beide Söhne aufgeteilt worden: Arcadius (griechisch Arkadios) erhielt den Osten, Honorius den Westen; die beiden, 18 und 11 Jahre alt, waren schon altersmäßig zu einer wirklichen Führung der Staatsgeschäfte nicht in der Lage. So konnte Alarich die Rivalität der leitenden Staatsmänner, des obersten Heermeisters (magister militum) und patricius Stilicho im Westen - germanischer (wandalischer) Herkunft, doch als Schwiegervater des Honorius von Theodosius als dessen Vormund eingesetzt -, und des Prätorianerpräfekten im Osten, Rufinus, für sich ausnutzen. Nach der Ermordung des Letzteren noch im gleichen Jahr blieb Alarich auf der östlichen Seite, als magister militum für die Präfektur Illyricum dort anerkannt, kam aber in seinem Bemühen um bessere Ansiedlungsmöglichkeiten nicht zur Ruhe. Im Verlauf einer gescheiterten Invasion gegen das Westreich 402 indes gelang es Stilicho, ihn auf seine Seite zu ziehen. Nach der Ermordung Stilichos und dem Sieg einer vorübergehend antigermanischen Richtung in Ravenna (408) zogen die Goten nach Italien, wo sie nach vergeblichem Verhandeln mit dem Hof 410 Rom belagerten und einnahmen. Neben großer Beute fiel Alarich die Schwester des Honorius, Galla Placidia, in die Hände; sie teilte von nun an als Gefangene das Schicksal des westgotischen Volkes.

Hatte zuvor, um 400, bereits ein Aufstand ostgotischer Föderaten in Kleinasien unter Führung von Tribigild und Gainas zur vorübergehenden Besetzung von Konstantinopel geführt, so erweckte die nach Niederschlagung des Aufstandes dort deutliche antigermanische Stimmung jetzt eine verspätete Solidarität mit dem Westen. Oströmische Hilfstruppen bestärkten Honorius, die Verhandlungen mit Alarich scheiterten. Alarich ernannte deshalb den Senator Attalus zum Gegenkaiser, der bis 416 eine gewisse Rolle spielte. Eine Lösung der Ansiedlungsfrage freilich ergab sich damit nicht. Ein Versuch Alarichs, die Provinz Africa zu gewinnen, schlug fehl. Bereits Ende 410 starb er in Kalabrien. Kurz danach freilich kam es zwischen seinem Nachfolger Athaulf und dem Hof in Ravenna doch noch zu einer Übereinkunft, wonach die Goten in Gallien den Usurpator Jovinus (411-413) niederzukämpfen hatten, um dort neue Ansiedlungsmöglichkeiten zu finden. Wichtiger indes war, dass Athaulf 413 in Bordeaux die Ehe mit Galla Placidia schloss: Ein erster Schritt zu politischer Anerkennung und Etablierung eines germanischen Königs war damit getan, der Schule machen sollte.

Der lange Marsch der Wandalen

Im Osten war die hunnische Invasion nach der Zerstörung der beiden Gotenreiche zum Stehen gekommen. Die vorübergehend miteinander verbundenen hunnischen Stämme hatten sich offensichtlich wieder getrennt, von weiterer Koordination ist nichts bekannt, und bezeichnenderweise operierten einzelne hunnische Gruppen von da an in unbekannter Stärke selbst aufseiten der Germanen und nahmen, wie schon erwähnt, auch an der Schlacht von Adrianopel teil. Doch beim Nachrücken weiterer Gruppen bildete sich anscheinend ein hunnisches Zentrum heraus. Um die Jahrhundertwende ist ein erster Herrscher bekannt, Uldin, der die Verbindung mit Byzanz (Konstantinopel) aufnahm und wenige Jahre danach als Bundesgenosse der westlichen Kaiser gegen germanische Gruppen kämpfte. All dies und ein Neuaufleben der Furcht von 376 muss bewirkt haben, dass um diese Zeit neue, in sich heterogene Barbarengruppen aus dem illyrischen Raum und jenseits der Donau in das Imperium aufbrachen: 405 die des Radagais, der Überlieferung nach mit mehreren hunderttausend Mann, die Stilicho mit Uldins Hilfe vernichtete; 406 vielleicht Sarus, ein Gote mit Anhängern; 409 dann Athaulf, der Schwager Alarichs, aus Pannonien.

Am schwersten aber wog der Aufbruch einer offenkundig ungeordneten Völkerwelle um diese Zeit, bestehend aus Wandalen, das heißt Silingen aus Schlesien und Hasdingen (auch Asdingen) aus der südlichen Slowakei, verbunden mit anderen Gruppen, darunter Quaden und Alanen; sie bewegte sich donauaufwärts über den Rhein nach Gallien und teilte sich dann. Gallien und die Iberische Halbinsel waren um diese Zeit in der Hand von Usurpatoren, die kaum Widerstand zu leisten vermochten. Das Land, auch die Hauptstadt Trier, wurden geplündert. Doch diese Gruppen blieben nicht in Gallien, sondern gelangten nach Kämpfen, besonders mit den Franken, zusammen mit den Sweben und Teilen der Alanen nach Spanien, wo es zu einer Teilung des Landes kam (wohl 409); die Hasdingen beanspruchten die Provinz Baetica im Süden, die Silingen das Gebiet des späteren Kastilien im Norden für sich. Eine Legalisierung durch den Kaiser freilich blieb aus. In den Kämpfen mit den Westgoten ab 416 wurden die Silingen und die Alanen aufgerieben.

Doch 428 gelang dem immerhin noch starken Rest zusammen mit den Alanen unter Führung Geiserichs - rex Vandalorum et Alanorum -, auf eine Einladung des Comes (Oberbefehlshabers) Bonifatius hin, nach Afrika überzusetzen und in langem, zweifellos beschwerlichem Marsch nach Osten vorzudringen. Mit einer Landnahme solcher Art von etwa 80000 Menschen hatte Bonifatius nicht gerechnet, sondern nur eine demonstrative Drohung gegenüber Ravenna und seinem Widersacher am Hofe beabsichtigt. Nunmehr Gegner der Wandalen, leistete er Widerstand, und ein oströmischer Heeresverband kam ihm über See zu Hilfe. Nach einer Belagerung von Hippo Regius (heute Annaba) handelte Geiserich 435 einen Frieden mit Rom aus und erhielt als Bundesgenosse den Besitz Nordafrikas zugestanden, außer Karthago. Doch dieses eroberte er 439 im Handstreich.

Hatten die Wandalen 425 bereits die Balearen geplündert und danach mühelos die Überquerung der Straße von Gibraltar bewerkstelligt, so steigerten sich von jetzt ab ihr taktisches Können und ihre Fähigkeiten in der Seekriegsführung zur wirklichen, permanenten Bedrohung; ihrer Plünderung von Küsten und ihren Überfällen hatte Rom nichts entgegenzusetzen. Ein byzantinisches Landungskorps musste 442 nach kurzem Aufenthalt in Sizilien und in Afrika angesichts drohender Hunnengefahr abgezogen werden. So kam es 442 zum Frieden mit Rom. Geiserich behielt Karthago, die Provinz Africa und den größten Teil Numidiens, die westlichen Teile Afrikas übernahm Rom. Eine Präsenz römischer Staatlichkeit scheint es dort aber nicht mehr gegeben zu haben. Von den anderen Teilnehmern am Zug von 406 sind die Sweben in Galicien geblieben, wo ihr Reich nach langen Auseinandersetzungen mit den Westgoten bis gegen Ende des 6. Jahrhunderts bestehen blieb; der Großteil der Alanen wurde unter eigenen Königen in Gallien an der Loire angesiedelt.

Geiserich hatte bereits unmittelbar nach der Landnahme in Afrika begonnen, sein Reich auszubauen und zu einer absoluten Monarchie zu gestalten. Ursprünglich zu einem Zusammengehen mit den Westgoten bereit - sein Sohn Hunerich wurde mit einer Tochter König Theoderichs I. verlobt -, benutzte er eine Verschwörung des Adels 442, diesen zu entmachten und eine absolute Herrschaft zu errichten. Die Westgotin, der Teilnahme daran beschuldigt, wurde verstümmelt nach Hause geschickt. Den Bruch, der damit entstand, kompensierte Geiserich durch die Verlobung Hunerichs nunmehr mit der kaum fünfjährigen Tochter Valentinians III., Eudocia, und vollzog damit, konsequenter als Athaulf, die Verbindung seines Reiches mit Rom. Seine weiteren Ziele sind unklar. Aber nahe liegt, dass es ihm durch diese Verbindung um eine Festigung seiner Position im Mittelmeer ging und um die Etablierung seines Reiches gleichsam als einer dritten Kraft neben Byzanz und Rom im Mittelmeer. Die Seemacht, die er aufbaute, war bei all dem zweifellos ein wesentlicher Faktor, und als Druckmittel hat Geiserich sie immer wieder eingesetzt. Zwar hörten nach 442 die kriegerischen Aktionen vorerst auf, und auch die Belieferung Italiens mit afrikanischem Getreide machte keine Schwierigkeiten.

Doch nach der Ermordung Kaiser Valentinians III. 455 waren die Wandalen zur Stelle, besetzten Rom und verbrachten die kaiserliche Familie nach Afrika, wo es zu der geplanten Eheschließung kam. Die Plünderung der Hauptstadt bei dieser zweiten germanischen Eroberung, aus der Spätere das Schlagwort »Vandalismus« konstruierten, scheint sich in Grenzen gehalten zu haben. In Afrika selbst baute Geiserich seine Herrschaft aus. Das Land, vor allem die beiden Provinzen Africa und Byzacena, wurde teilweise zur Ansiedlung der Wandalen als Grundbesitzer, teilweise zur Stärkung der königlichen Macht als Domäne verwendet, die ursprünglichen Eigentümer und Pächter konnten in abhängiger Stellung verbleiben. Ein Teil von ihnen aber wurde vertrieben oder verließ freiwillig das Land.

Rigoros verfuhr Geiserich auch in seiner Religionspolitik. Da er Christ arianischer Konfession war, bedeutete seine Herrschaft eine Katholikenverfolgung mit Schließung katholischer Kirchen und Vertreibung bzw. Verbannung von Bischöfen und einem Druck auf die Bevölkerung, der in einem Lande von besonderer religiöser Intensität nicht ohne Folgen bleiben konnte. Unter Hunerich (477-484) setzte sich dies fort, bis in den Neunzigerjahren wieder Toleranz verkündet wurde. Im Übrigen wurden Römer in der Reichsverwaltung eingesetzt, und von weiteren schwerwiegenden Repressalien gegen die römischen Einwohner ist nichts bekannt, während Außenpositionen in Sizilien, Sardinien und selbst Korsika zweifellos auch Handelsbeziehungen förderten. Doch konnte das Wandalenreich Geiserichs für andere germanische Reichsbildungen kaum ein Modell sein. Eher erklärt sich die Politik des Königs aus der Erkenntnis der eigenen Isoliertheit in einer fremden Welt unter ungewohnten Lebensbedingungen, ohne die Aussicht auf weiteren germanischen Zustrom und daher auch aus dem bewussten Verzicht auf ethnische Integration. In der Tat blieben diese Wandalen ein Fremdkörper, was später das Ende ihres Reiches zweifellos beschleunigt hat.

© Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2004

Seitenanfang

[ Zurück ]

[Vorwort] [Landschaft] [Forschung] [Geschichte] [Militär] [Schriftquellen] [Novaesium]
[Alltag und Kult] [Literatur] [Verweise] [Glossar] [News] [Weblog] [Gästebuch] [Kontakt]