Rätseln um den Urspung alter SagenKastell- und Klostergeheimnisse um Nibelungen und Thidreks-Saga Chris Stoffels Die nordische Thidreks-Saga und das Nibelungenlied - ihre Geschichte und ihre Entstehung, ihre Überlieferung und ihre Autoren gehören zu den größten Rätseln der Literaturgeschichte. Kann ein Teil dieser Geheimnisse in dem Dormagener Kastell und im Kloster Knechtsteden gelüftet werden? Spuren führen in die Klosterbibliothek, wo möglicherweise die Geschichten der Thidreks-Saga und des Nibelungenliedes buchstäblich zwischen den Seiten und auf den Buchrücken der alten Folianten enthalten ist. Die NGZ begibt sich auf Spurensuche.
"Uns ist in alten maeren wunders vil geseit....." Mit diesen Worten beginnt das Nibelungenlied. Der Verfasser ist unbekannt, seine Identität ist eines der großen ungelösten Rätsel der Literaturgeschichte. Der Deutungen gibt es viele, an einer schlüssigen Lösung fehlt es. Eine der möglichen Spuren führt in die Region, endet im Kastell Durnomagus in Dormagen und in der Bibliothek des Klosters Knechtsteden. Der Dortmunder Skandinavist und Germanist Ralf Koneckis (50), der sich sein Studium als Eishockeyspieler und -trainer unter anderem in Berlin und Dortmund verdiente, und der pensionierte Oberstudienrat und Heimatforscher Hans Pröpper aus Korschenbroich wollen Licht in das Dunkel dieser Geschichte und der sie umgebenden Geheimnisse bringen. Ihr Ansatzpunkt ist der berühmte erste Satz des Nibelungenliedes. Und der besagt, dass der Autor auf einen alten Sagenstoff zurückgreift, es Vorläufer des Nibelungenliedes gibt. Und seit gut hundert Jahren sieht ein gewichtiger Teil der Wissenschaft eindeutige Hinweise und exakte Berührungspunkte: Die Siegfried-Sage ist Teil der nordischen Thidreks-Saga. Doch wo liegt der Ursprung? Ist diese lange verkannte Sagenwelt aus Skandinavien jene "maer" des Nibelungenliedes? Eine Frage, die von der Fachwelt - vielleicht aus einseitiger Bewunderung für das bedeutsamste deutsche Sex-and-Crime-Stück des Mittelalters - immer noch geleugnet wird. Lange Zeit galt sogar das Gegenteil: Die nordischen Sagen sind nur ein robuster Abklatsch des Nibelungenliedes, über die Hanse-Kaufleute nach Deutschland gelangt. Vor allem der umstrittene Germanist und berühmte Pädagoge Heinz Ritter-Schaumburg, Jahrgang 1902 ("Die Nibelungen zogen nordwärts") und seine Anhängerschaft drehten die Geschichte um, betrachten das Nibelungenlied als Teil eines weitaus umfassenderen Sagenwerks - der nordischen Thidreks-Saga. Die Parallelen der Siegfried-Sage zu der nordischen Sagenwelt sind nach Ansicht dieser Richtung, der auch Koneckis und Pröpper angehören, eindeutig: Siegfried und andere "Stars" des Heldenepos spielen auch in der Thidreks-Saga (alt-norwegisch), oder Didriks-Saga (altschwedisch) eine bedeutsame Rolle. Doch woher stammen die Grundlagen und Erkenntnisse jener nordischen Sagenwelt, die um die Mitte des 13. Jahrhunderts aufgeschrieben worden war?
Fachleute sind sich mittlerweile weitgehend einig: Die Szenerie der Thidreks-Saga, so die Forscher, spielt am Niederrhein und in Westfalen. In der altschwedischen Fassung wird am Schluss sogar ausdrücklich berichtet, dass die Geschichten von deutschen Männern überliefert sei. Also sei das Nibelungenlied nur ein späterer Ausschnitt aus der nordischen Sage. In dem deutschen Nibelungenlied geht es immerhin wesentlich gesitteter zu als in der archaischen Thidreks-Sage des Nordens. Pröppers Folgerung: "Offensichtlich ist das Nibelungenlied bereits von christlichen Moralvorstellungen und höfischen Vorstellungen geprägt." Vor allem die Person Dietrichs hatte Teile der Forscherwelt in die Irre geleitet: Für sie war - nach einer Deutung der Märchen-Gebrüder Grimm - klar, dass der Dietrich der Nibelungen-Sage Theoderich der Große (Dietrich von Bern) ist, der 493 bis 526 n. Chr. lebte. Doch das trifft nach Ansicht von Ritter Schaumburg, Koneckis und Pröpper nicht zu: Der wahre Dietrich war nicht der große Herrscher im Süden, sondern Thidrek, ein mittelständischer Fürst mit einem kleinen Reich namens Bern. Bern aber steht für Bonn, wie sich anhand alter Stadtsiegel nachweisen lässt. Damit wankt auch der Handlungsort der Nibelungensage: Niederrhein und Westfalen statt Süddeutschland und Ungarn? Und das wiederum deckt sich auch mit anderen Ortsnamen aus der Thidreks-Saga. Eine Frage, die viele Geheimnisse aufgibt, die viele mehr oder weniger professionelle Forscher beschäftigt: Die Thidreks-Saga ist nicht im deutschen Raum und nicht in deutscher Sprache geschrieben - und dennoch weisen die Spuren in unsere Region. Koneckis und Pröpper sind den Hinweisen nachgegangen, auch der Neusser Gerd Schwager hat in diese Richtung geforscht und Erstaunliches zu Tage gefördert. Die Thidreks-Saga beschreibt die Zeit der Völkerwanderung, jenem dunklen Kapitel der nachrömischen Zeit um die Mitte des ersten Jahrtausends am Niederrhein und in Westfalen. Und sie spielt, so eine Vermutung von Koneckis, auch in Dormagen. In jener Region also, in der nach dem endgültigen Zusammenbruch der römischen Herrschaft die ehemaligen Föderatenfürsten, zu einem großen Teil in den Kastellen des ehemaligen niedergermanischen Limes wie in Dormagen, begannen, miteinander und gegeneinander zu agieren. Es war die Zeit der Hader und Fehden, der Kriege und Bünde, wie sie die Thidreks-Saga beschreibt. Ein Teil dieser Beschreibung ist die Saga der "Niflungen". Statt Worms wird der Großraum Köln zur Szenerie. Der Bonner Fürst Dietrich ist einer der Haupthelden. Der Untergang der Nibelungen erfolgt nicht im Hunnenland beim König Etzel im heutigen Ungarn, sondern "in Sunsat im Hunland bei König Atala", im westfälischen Soest. Ein Hindernis der Forschung: Aus dieser Zeit gibt es kaum Überlieferungen; die römischen Geschichtsschreiber hatten ihr Interesse an die südlichen Fronten verlegt, wo es spannender zuging als am Rhein. Eine der wenigen Ausnahmen, die Hinweise geben könnte, ist das Kastell Durnomagus, Dormagen. Die neuen Ausgrabungen des Archäologen Dr. Michael Gechter in den vergangenen Monaten an der Kölner Straße in der Nähe des Rathauses weisen darauf hin, dass das ursprünglich römische Castell weiter existiert hat, möglicherweise bis in das siebente Jahrhundert, mitten in jener Zeit der Thidreks-Sage mit den Nibelungen-Auseinandersetzung, Fürsten- und Familienfehden. Gechters Hinweise haben ergeben, dass Durnomagus ein wichtiger Militärstützpunkt war, der ab dem vierten Jahrhundert erneut ausgebaut worden war und der voll in nachrömische Kämpfe in der Region einbezogen war. Laut Gechter waren bis zu 1.000 Mann in solchen Einheiten stationiert; sie operierten von dieser gut positionierten Station im Rheintal als eine Art "mobiler Einsatzkräfte" aus. Der Dortmunder Forscher geht unter anderem der Vermutung nach, dass es sich bei dem Dormagener Kastell um das spätrömische/frühmittelalterliche "Raena" handeln könnte. Über diesen Ort heißt es in der Thidreks-Saga: "Nun reitet König Didrik hinaus von seiner Stätte Raena und er hat nun VIII Tausend Männer." Gemeint sind eher 800 Männer, denn es lässt sich nachweisen, dass die Zahlenangaben in späteren Überlieferungsgeschichten verzehntfacht wurden. Raena, in der altschwedischen Lesart heißt das "Room", wird laut Koneckis als "Stätte" bezeichnet. Und diese Bezeichnung könnte auf das Dormagener Lager gemünzt sein. Möglicherweise bezeichnet dieser Begriff auch das Gebiet zwischen Horrem und dem früher auf dieser Rheinseite gelegenen "Haus Bürgel" als "Rheinowe", wo sich die Truppen sammelten. Dormagen war nach dieser Lesart also eine Stätte der Thidreks-Saga. Der Überlieferer könnte mithin die Region gekannt haben, die geographischen Zusammenhänge könnten stimmen. Doch letzten Aufschluss könnten nur weitere archäologische Funde geben. Noch sind das Spekulationen, Vermutungen, versteckte Hinweise, die ihrer wissenschaftlichen Erhellung harren. Dormagen inmitten der nordischen und der Nibelungen-Sagenwelt, das ist die eine Geschichte. Die andere: Einige Forscher sehen Hinweise, dass Teile der Thidreks-Saga und damit auch der Siegfried-Geschichte möglicherweise im Kloster Knechtsteden entstanden, überliefert, aufgeschrieben wurden. Ein logisches Gebäude, das zutreffen kann, aber nicht muss. Ein spannendes Kapitel der Heimat- und Literaturforschung. Wenn die Thidreks-Saga und damit das Nibelungenlied zur Völkerwanderungszeit am Niederrhein gespielt haben, so sind möglicherweise auch ihre ersten schriftlichen Zeugnisse hier entstanden, haben zumindest die Erzähler hier gelebt, bevor die Geschichten auf verschlungenen Wegen nach Norden wanderten. Damals gab es nur zwei Wege: die Hanse und die christliche Mission. Und auf diesem zweiten Weg spielt schnell Knechtsteden eine bedeutende Rolle. Das Kloster wurde 1130 gegründet; die Thidreks-Saga wurde nach wissenschaftlichen Erkenntnissen um 1250 niedergeschrieben. Und zu dieser Zeit taucht in den Schriften ein Prämonstatenser-Mönch namens Ludovicus. Die Germanistin Roswitha Wisniewski ordnet ihm die Niederschrift der Thidreks-Saga zu. Doch woher bezog dieser Mönch seine Kenntnisse? Ludovicus weilte - und darauf weist Koneckis hin - zweifelsfrei von 1210 bis 1236 im Kloster Wedinghausen bei Arnsberg. Er trägt den Beinamen "Scriptor", also Schreiber/Schriftsteller und gilt unter anderem als Schöpfer einer kostbaren Handschrift des Alten Testaments, die heute in Darmstadt aufbewahrt wird, und die ihn als "Meister seines Fachs" ausweist. Doch was machte Ludovicus vor und nach seiner Zeit ins Wedinghausen? Eine Spur führt in der Tat nach Norden. Das sauerländische Kloster war möglicherweise Zwischenstation auf dem Weg nach Skandinavien. Die Prämonstratenser waren und sind Missionare. In das Jahr 1190 fällt die Gründung des Klosters Tönsberg, die des Klosters Dragsmark um 1240, beide in Norwegen. Dort könnte auch Missionar Ludovicus gewirkt haben, der Urheber der Sage. Möglicherweise hat Ludovicus sich selbst in der Saga beschrieben: das Kloster "Wadicusan": So tritt Heime, einer der zwölf Tafelritter Thidreks in das Kloster "Wadicusan" ein, ein tapferer Kämpe mit einer guten Portion List. "Er hält die Regel ein", heißt es lapidar über den Mönch, der fortan Ludwig heißt. Und erst als das Kloster in Bedrängnis kommt, greift er wieder zum Schwert, kämpft gegen den Riesen Aspilian..... Es spricht einiges für die allerdings umstrittene Ansicht der Germanistin. Aber woher nahm Mönch Ludovicus die Kenntnisse für die Niederschrift der Thidreks-Saga? Aus Knechtsteden? Hatte er dort Einsicht in alte Sagenschriften, die dann zerstückelt wurden? Das Kloster war damals das führende Haus der Prämonstatenser in Deutschland, dort wurden die Mönche auf die Mission vorbereitet. Auch Ludovicus? War er durch alte Schriften in der Klosterbibliothek die Geschichten von Dietrich gestoßen? Waren dort die alten Sagen aufgeschrieben, überliefert worden? Kloster- und Kirchenbrände mögen einen Teil der Wahrheit verschüttet haben. Möglich ist aber auch, dass diese Ur-Zeugnisse der alten Sagen im Zuge der Christianisierung in Knechtsteden abhanden gekommen sind. In der Knechtstedener Klosterbibliothek lagern bis zu 70.000 Bücher, darunter zahlreiche Folianten, seit etwa Mitte des 15. Jahrhunderts. Und - gerade weil sie viel später entstanden und frommen Inhalts sind - könnten diese wertvollen Bände das Geheimnis von Thidreks-Saga buchstäblich in sich tragen. Hans Pröpper erläutert: "Ab Ende des zwölften Jahrhunderts wurden in zahlreiche Bibliotheken Büchern nicht-theologischen Inhalts entfernt." Die alten Büchern, die nicht mehr in das Weltbild passten, wurden zerschnitten, und sie wurden auf eine besondere Weise recycelt. Mit den so gewonnenen Papierschnipseln wurden die neuen Bücher theologischen Inhalts gebunden und geleimt. Einige der Folianten in der Knechtstedener Bibliothek weisen diese beschrifteten Rücken und losen Schnipsel zwischen den Seiten auf. Diese Fragmente sind nie genauer untersucht worden. "In diesen Schnipseln könnte möglicherweise das Geheimnis der Thidreks-Saga und des Nibelungenliedes liegen", so Koneckis. "Wir müssten diesen Schrift-Fragmenten genau nachgehen." Spekulativ? "Die Geschichte geht manchmal verschlungene Wege", so Koneckis und Pröpper. Auf solche geheimnisvollen Wegweiser in das Dunkel der Geschichte achtet auch der neue Knechtstedener Bibliothekar Heiner Gerken (54), der seit August den Bestand der Klosterbibliothek sichtet. Ob Wissenschaft oder Spekulation? "Da halte ich mich heraus." Siehe auch folgende Artikel: Weitere Informationen im Internet: |
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