NGZ-Online, 24. Dezember 2003
Aus der Wundertüte
Spannende Reise für Archäologen Dr. Carl Pause
Helga Bittner
Als vor zwei Jahren ein Töpferofen aus dem Mittelalter bei Ausgrabungen an der Michaelstraße entdeckt wurde, begann für den Archäologen Dr. Carl Pause eine spannende Reise in die Vergangenheit. Diesem Mann ist etwas gelungen, wovon andere seiner Zunft meistens nur träumen können: über Grabungsfunde eine persönliche Lebensgeschichte zu rekonstruieren.
Mit Namen, Adresse, Hausrat, steuerlichen Abgaben, Todesdaten - halt allem, was die Lebensumstände einer Handwerkerfamilie im Mittelalter ausmachte. Denn eine solche rückte völlig unvermutet in den Fokus seiner Ermittlungen, die den Archäologen des Clemens-Sels-Museum im Vorfeld der im Mai geplante Ausstellung "Teller, Töpfer, Traditionen" vor allem ins Stadtarchiv führte.
Durch uralte Akten - kaum geordnet, geschweige denn erforscht -, habe er sich gefressen, sagt er lachend. Und so ganz nebenbei noch Dinge entdeckt, die die damalige Zeit in einem neuen Licht erscheinen lassen: Dass das mittelalterlichen Neuss entgegen damaliger Gepflogenheiten gleich sechs Töpfereien innerhalb seiner Stadtmauern beherbergte - wegen der Brandgefahr wurde dieses Gewerbe normalerweise nur außerhalb der Stadt zugelassen; oder dass die Menschen Tee getrunken haben - bislang galt die Neusser Gegend als Kaffee-Ecke.
Doch der Reihe nach. Immer wieder, so beginnt Pause die seltsame Geschichte seiner Entdeckungen, sei man im Zuge von Bauarbeiten in der Innenstadt auf Töpferfunde gestoßen, die zwar eindeutig als Produktionsabfälle identifiziert wurden (Stapelhilfen oder Fehlbrände), aber nie in einen Zusammenhang gebracht werden konnten.
In der Forschung galt es als sicher, dass sich feuergefährliches Gewerbe im 18. Jahrhundert nur vor den Stadtmauern ansiedeln durfte, deswegen "war die Überraschung riesengroß, als vor zwei Jahren an der Michaelstraße ein Töpferofen gefunden wurde".Dass dieser so lange unentdeckt blieb, obwohl er nur rund einen Meter tief im Boden lag, war aus Sicht der Archäologie pures Glück: "Da standen wohl immer nur Schuppen, zumindest wurde der Boden dort nie ausgehoben", erzählt Pause.
Das müssen wir zeigen, war dann sein erster Gedanke; sein zweiter: "Darüber müssen wir mehr wissen." Logische Folge dessen war für Pause der Gang ins Stadtarchiv - den er dann etliche Male einschlug, weil er in "dieser Wundertüte" letztlich so viele noch nicht aufgearbeitete handschriftliche Aufzeichnungen fand, die ihm eine Erkenntnis nach der anderen bescherten. Zug um Zug blätterte er so das Leben der Familie Tieves auf. Am 19. Mai 1786 hatte der Töpfer Godofrid Tieves bei den "HochEdelgebohrne" den Antrag gestellt, "hinter meiner Behausung in der Entfernung von 24 fuß einen pfannen-ofen zu errichten", der - wie der Grabungsfund belegt - auch gewährt wurde.
Tieves Grundstück an der Michaelstraße 9 grenzte auf der einen Seite an die Stadtmauer, auf der anderen Seite waren Wiesen, so dass die Feuergefahr an dieser Stelle wohl als recht gering eingeschätzt wurde, rekapituliert Pause. Für seine Annahme spricht zudem die Tatsache, dass seine Nachforschungen vier weitere Töpfereien an der Michaelstraße und eine fünfte an der Neustraße ans Tageslicht brachten.
Schweine im Treppenhaus
Doch zurück zu Tieves. Allein vom Töpfern konnte die Familie nicht leben, deswegen betrieb Vater Godofrid (oder Godofriedus - die wechselnden Vornamen, die unterschiedliche Orthografie und die verschiedenen Handschriften machten Pause das Lesen nicht gerade einfach) auf über 2800 Quadratmeter Ackerland hinterm Haus noch Landwirtschaft. Woher Pause das weiß?
Er fand Steuerlisten und die Notiz, dass Tieves Abgaben für sein Ackerland zahlen musste. Außerdem kann der Archäologe anhand einer behördlichen Inventarliste rekonstruieren, dass im kleinen Häuschen der Familie eine Kuh untergebracht war. Nach "etwelche dupfen und schüßelen" (Töpfe und Schüssel) werden "eine kuhe taxirt und verkauft" und "stroh und etwas heu" aufgeführt - für Pause der Beweis, dass damals Familie und Vieh in einem Raum lebte und aß: "Die Schreiber sind in der Regel von Raum zu Raum gegangen und haben aufgeschrieben, was sie sahen."
Erhärtet wird seine Annahme noch durch ein anderes Schriftstück, das Pause in den Akten aus der Zeit gefunden hat und von einem Streitfall zwischen Nachbarn wegen der Unterbringung von Schweinen im Treppenhaus eines Wohnhauses zeugt. Dass der Archäologe überhaupt eine Inventarliste vom Tievenschen Hausrat finden konnte, ist indes einem traurigen Anlass zu verdanken. Das Ehepaar war gestorben und für die vier Erben, von denen einer unmündig war, wurde der Nachlass zwecks gerechter Verteilung unter den Kindern aufgelistet.
Aus heutiger Sicht war es erschreckend wenig, was die Familie zum Leben hatte, "dabei ging es ihnen damals nicht einmal schlecht", sagt Pause nachdenklich, "zumindest gemessen an dem, was ein Bäcker oder Fuhrmann verdiente". Auf rund 200 Reichsthaler wurde der Wert des Tievschen Haushalts geschätzt und nach Abzug der Beerdigungskosten für die Eltern auf die vier Kinder verteilt, von denen eins schon auswärts arbeitete. Und wieder ist es behördlicher Akribie zu verdanken, dass für Pause ein bisheriger Verdacht zur Gewissheit wurde.
Mehrfach waren ihm aus dem 18. Jahrhundert Gefäße in die Hände gefallen, die er aus Holland als Teekännchen kannte. Doch Neusser und Rheinländer galten eher als Kaffeetrinker, doch nun fand er auf der Bewirtungsliste für die Tieves-Beerdigung auch Tee ... und Branntwein, was wiederum die vermehrten Funde von kleinen Branntweinschalen rund um die Töpfereien erklärte.
Kein Wunder, dass Carl Pause ganz begeistert davon spricht, dass die Ausstellung über das Töpfergewerbe "die spannendste ist, die ich bisher gemacht habe". Jede neue Entdeckung treibt ihn zu weiteren Forschungen an - und das Feld dafür im Stadtarchiv ist noch weit. Nur in einem Punkt muss er wohl klein beigeben: Er hat (noch) nicht herausfinden können, woran die Eltern Tieves - fast gemeinsam - gestorben sind. |