NGZ-Online, 28. Juli 2002

Neuss - eine Stadt als Kriegsgewinnler

Sauer klärt die letzten Fragen zur Stadtgeschichte

Christoph Kleinau

Am Anfang der Erfolgsgeschichte des mittelalterlichen Neuss steht ein böses Wort: Kriegsgewinnler. Aber es trifft den Kern, wie Sabine Sauer bestätigt. Denn der Aufschwung des Handelsplatzes am Rhein ging einher mit einem Niedergang der küstennahen Städte an Rhein- und Maasmündung. Für beides nennt die Stadtarchäologin ein Datum: die Wende vom neunten zum zehnten Jahrhundert.

Sabine Sauer und Stefan Pfitzer Stadtarchäologin Sabine Sauer zeigte Freitag Planungsdezernent Stefan Pfitzer Funde der archäologischen Ausgrabungen am Omnibusbahnhof vor. Zum Beispiel den Rest einer Vorratsamphore. Anhand der Funde glaubt sie belegen zu können, dass der große Aufschwung des mittelalterlichen Neuss begann, als der Handel in Küstennähe in Folge des Normannensturm zusammenbrach. Neuss war insofern ein "Kriegsgewinnler".
NGZ-Foto: A. Woitschützke

Und beide Entwicklungen haben die gleichen Väter: die Normannen. Den Beleg für diese These und damit die Antwort auf eine der letzten offenen Fragen zur Stadtgeschichte hat Sauer im Boden unter dem Omnibusbahnhof gefunden. In Form von Keramikscherben. Im Jahr 881 waren die Nordmänner noch brennend und mordend den Rhein bis nach Neuss und Köln heraufgezogen. Das ist bei dem Chronisten Regino von Prüm nachzulesen.

Zehn Jahre später waren die Menschen am Rhein in der Lage, den Kriegern in ihren Drachenbooten bei solchen Überfällen erfolgreich die Zähne zu zeigen. Die Küstenbewohner wurden diese Geißel nicht so bald los, und so verlagerte sich der Handel von diesem unruhigen Gebiet in die befriedete Rheinschiene. Explosionsartig, so ist Sauer überzeugt, habe sich von diesem Datum an die mittelalterliche Händlersiedlung Neuss, deren Keimzelle auf dem Areal des heutigen Omnisbusbahnhofes liegt, entwickelt.

Ältere Keramik aus Spätantike und fränkisch-merowinger Zeit fand sie dort nämlich nur spärlich. Sauer: "Also kein Hinweis auf eine prosperierende Siedlung vor den Normannenstürmen." Das ändert sich Ende des neunten Jahrhunderts, wie die massenhaften Funde von Scherben aus Badorfer (9./10. Jahrhundert) und Pingsdorfer (10./11. Jahrhundert) Produktion belegen, die in 1,20 Meter Tiefe unter dem Asphalt die Jahrhunderte überdauerten. "Eine einzigartige Fundkonzentration", jubelt Sauer mit Blick auf knapp 50 Kisten voll irdener Waren, die seit März zutage gefördert wurde.

Und das Grabungsfeld liegt erst zur Hälfte offen! Dass die Neusser nicht nur rege Handel trieben und von der Verlagerung der Handelsströme - nun nachweislich! - ähnlich stark profitierten wie Köln und Mainz ist eine neue Erkenntnis. Dass sie auch rasch zu Wohlstand kamen, eine andere. Denn aus dem Keramikschutt des 10./11. Jahrhunderts kratzten die Archäologen auch glasierte Scherben heraus, Reste einst hochwertiger und teurer Importe aus dem maasländischen Andenne.

"Das Highlight unter den Fundstücken", betont Sauer, die glasierte Keramik aus Neusser Produktion nur aus dem 15. Jahrhundert kennt und ältere, importierte Stücke bislang nur für das 13. Jahrhundert sichern konnte. Wann Neuss im Mittelalter seinen Aufschwung begann, glaubt Sabine Sauer nun zu wissen. Andere Fragen geben ihr noch Rätsel auf. Zum Beispiel, wann die römische Zivilsiedlung verlassen wurde. Dass sie auch der Antwort zu dieser Frage ein Stück näher kommt, ist nicht ausgeschlossen, denn am Omnibusbahnhof wurden auch Reste römischer Fundamente freigelegt.

Unter der Südostecke der Immunitätsmauer, die ab Mitte des 17. Jahrhunderts den Sepulchrinerinnen klösterliche Ruhe garantierte, fanden die Archäologen einen älteren Keller, gebaut aus Tuffen, Kieseln und kleinen Basalten. 12./13. Jahrhundert war die erste Schätzung, bis auch römische Ziegel zutage traten, die in dieser Mauer zweitverwertet wurden. Jetzt schließt Sauer auch eine Datierung im 3./4. Jahrhundert nicht mehr aus.

Recycelte Steine aus römischen Brennöfen fanden sich allerdings auch außerhalb dieses Kellers, in den Grundrissen der in Richtung des heutigen Kreishauses dem Kloster vorgelagerten Händler- und Handwerkersiedlung. Dort bilden sie den Untergrund einer Herdstelle aus dem 13. Jahrhundert. Seitlich davon stießen die Arbeiter auf einen Teil einer Amphore, einem Vorratsbehälter. Dieser ist in der Bauhütte der Archäologen zu sehen, wo am 16. August und am 6. September (11 Uhr) öffentliche Führungen ins Ausgrabungsfeld und durch mehrere Jahrhunderte Stadtgeschichte starten.

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